Ruhelos
hätte er Freude an meiner direkten Art.
»Normalerweise trage ich überhaupt keinen Bart. Ich brauche ihn für eine Rolle.«
»Eine Rolle?«
»Im Don Carlos, der Oper. Ich spiele den spanischen Edelmann Rodrigo.«
»Ist die nicht von Verdi? Und Sie können also singen.«
»Wir sind eine Amateurtruppe«, erklärte er. »Im Playhouse geben wir drei Aufführungen. Sie können gern kommen.«
»Warum nicht, wenn ich einen Babysitter finde«, sagte ich. Das schreckte sie normalerweise ab. Aber nicht Thoms, und mir schwante langsam, dass sich sein Interesse an mir nicht auf meine Kenntnisse über die BSC beschränkte.
»Dem entnehme ich, dass Sie unverheiratet sind.«
»Das stimmt.«
»Wie alt ist Ihr Kind?«
»Fünf.«
»Bringen Sie es mit. Für die Oper ist man nie zu jung.«
»Na, vielleicht«, sagte ich.
Wir plauderten noch ein bisschen, und ich versprach, ihn anzurufen, wenn ich mit meiner Aufzeichnung fertig wäre – es seien noch weitere Informationen zu erwarten. Er blieb im Pub sitzen, und ich lief durch die High Street zu meinem Wagen. Ein paar Studenten in schwarzen Umhängen kamen, singend und Champagnerflaschen schwenkend, aus dem University College. Lachend und schreiend zogen sie davon. Prüfungen bestanden, dachte ich, das Semester ist fast vorbei, und vor ihnen liegt ein heißer Feriensommer. Plötzlich kam ich mir steinalt vor, ich dachte an meine eigenen Prüfungsfeiern – eine Ewigkeit her, wie mir schien –, und der Gedanke bedrückte mich aus den üblichen Gründen. Als ich meine Abschlussprüfung hinter mir hatte, war mein Vater noch am Leben gewesen; er starb, drei Tage bevor ich meine Ergebnisse bekam – und so erfuhr er nicht mehr, dass seine Tochter mit der Bestnote abgeschlossen hatte. Auf dem Weg zum Auto grübelte ich mal wieder über seinen letzten Lebensmonat nach, in jenem Sommer, der nun schon sechs Jahre zurücklag. Er hatte gesund ausgesehen, mein immergleicher Dad, er war nicht krank, er war nicht alt, aber in den letzten Wochen seines Lebens hatte er begonnen, sich merkwürdig zu verhalten. Eines Nachmittags buddelte er die jungen Kartoffeln aus, etliche Kilo davon, eine ganze Furche, fünf Meter lang. Warum hast du das gemacht, Sean?, hatte ihn meine Mutter gefragt. Ich wollte nur sehen, ob sie schon fertig sind, war seine Antwort gewesen. Dann sägte er einen drei Meter hohen Lindenschössling ab, den er im Vorjahr gepflanzt hatte, zerkleinerte und verbrannte ihn. Warum, Dad? Ich hab’s nicht ausgehalten, dass er wächst, war seine einfache, verblüffende Antwort. Äußerst seltsam allerdings war ein Zwangsverhalten, das er in seiner, wie sich dann herausstellte, letzten Lebenswoche entwickelte, nämlich alle Lampen im Haus auszuschalten. Er lief durch die Zimmer, treppauf, treppab, forschte nach brennenden Glühlampen und knipste sie aus. Wenn ich die Bibliothek verließ, um mir Tee zu kochen, und zurückkam, war es dort dunkel. Ich erwischte ihn dabei, wie er darauf lauerte, in die Zimmer zu gelangen, die wir gerade verließen, damit er das Licht, das nun nicht mehr benötigt wurde, sofort ausschalten konnte. Meine Mutter und ich wurden immer wütender. Einmal schrie ich ihn an: Was zum Teufel soll der Unsinn? Und er antwortete mit ungewohnter Demut: Ich finde nur, das ist eine schreckliche Verschwendung, Ruth, eine schreckliche Verschwendung von Energie.
Heute glaube ich, dass es der nahende Tod war, den er spürte, und dass ihm dieses Wissen nur in entstellter oder unkenntlicher Form zugänglich war. Letzten Endes sind wir tierische Wesen, und tief in uns drinnen lauern die alten Tierinstinkte. Tiere scheinen in der Lage zu sein, die Signale zu verstehen, gegen die sich unser großes, superintelligentes Gehirn mit allen Kräften sträubt. Mein Vater, da bin ich mir ziemlich sicher, hat aus seinem Körper subtile Signale empfangen, die ihm sein bevorstehendes Ende ankündigten, den finalen Systemkollaps, aber er wurde von diesen Signalen verwirrt. Zwei Tage nachdem ich ihn wegen der Lampen angeschrien hatte, brach er im Garten zusammen und starb. Es war nach dem Mittagessen. Er köpfte Rosen – also keine anstrengende Tätigkeit – und war sofort tot, wie man uns sagte und was mich tröstete. Aber noch immer quälte es mich, an seine letzten, verwirrten, verschreckten Wochen der timor mortis zu denken.
Ich schloss den Wagen auf und setzte mich ans Steuer, fühlte mich traurig und vermisste ihn plötzlich sehr. Was hätte er wohl von den erstaunlichen
Weitere Kostenlose Bücher