Ruhig Blut!
»Verdammt«, sagte er halblaut.
Er schlug das Buch an einer beliebigen Stelle auf, entzündete ein Streichholz und las: »… und zu jener Zeit, im Land der Zyriniten, gab es plötzlich viel mehr Kamele als sonst…«
Das Streichholz erlosch mit einem leisen Zischen.
Keine Hilfe, kein Hinweis. Himmelwärts versuchte es erneut. »… und blickte auf Gul-Arah herab, und auf die Klage der Wüste, und ritt dann
nach…«
Er erinnerte sich an das spöttische Lächeln des Vampirs. Welchen
Worten konnte er trauen? Mit zitternder Hand entzündete er das dritte Streichholz, blätterte kurz und las dann im matten, flackernden Schein: »… und Brutha sprach zu Simony: ›Wo die Dunkelheit regiert, schaffen wir ein großes Licht…‹«
Das winzige Feuer erlosch. Und die Dunkelheit regierte wieder. Oma Wetterwachs stöhnte. Ein Teil von Himmelwärts hörte das Pochen von Hufen allmählich näher kommen.
Er kniete im Schlamm und versuchte es mit einem Gebet, aber die Antwort einer himmlischen Stimme blieb aus. Om hatte nie zu ihm gesprochen, und von seinen Lehrern wußte er, daß er nicht damit rechnen durfte. Auf diese Weise manifestierte sich Om nicht mehr. Von allen Göttern war er der einzige, der die Antworten direkt in den Tiefen des Kopfes entstehen ließ. Seit der Zeit des Propheten Brutha galt Om als der stille Gott. So lautete die offizielle Wahrheit.
Ohne Glauben war man überhaupt nichts. Ohne Glauben existierte nur die Dunkelheit.
Himmelwärts schauderte. Schwieg der Gott? Oder gab es niemanden, der seine Stimme ertönen lassen konnte?
Er betete erneut, noch beharrlicher und verzweifelter, sprach Zeilen aus Kindergebeten, verlor dabei die Kontrolle über Worte und Kontext. Die Silben entschwebten ins Universum.
Regen tropfte vom Hut des Priesters.
Er kniete und wartete in der feuchten Dunkelheit, lauschte den eigenen Gedanken, erinnerte sich und holte noch einmal das Buch Om hervor. Und dann schuf er ein großes Licht.
Die Kutsche donnerte an Kiefern vorbei, die am Ufer eines Sees wuchsen. Sie stieß an eine besonders dicke Baumwurzel, verlor ein Rad, fiel auf die Seite und rutschte noch einige Meter. Die erschrockenen Pferde stoben davon.
Igor stand auf, humpelte zur Kutsche und hob eine Tür an.
»Tut mir fehr leid«, sagte er. »Daf paffiert immer, wenn der Herr nicht mitfährt. Ift allef in Ordnung mit euch?«
Eine Hand packte ihn an der Kehle.
»Du hättest uns warnen können!« knurrte Nanny. »Wir sind hin und her geschleudert worden! Wo sind wir jetzt? Ist dies Löschdurst?«
Ein Streichholz flammte auf, und Igor entzündete eine Fackel. »Wir find in der Nähe def Schloffef«, sagte er.
»Des Schlosses?«
»Dort wohnen die Elftyrf.«
»Wir sind in der Nähe des Schlosses der Vampire?«
»Ja. Ich glaube, der alte Herr hat hier etwaf mit der Ftrafe angeftellt.
Die Kutsche verliert immer ein Rad, daf ift fo ficher wie daf Amen in der Kirche. Daf bringt Befucher inf Schloff, meinte der alte Herr.« »Und dir ist es nicht in den Sinn gekommen, uns rechtzeitig darauf hinzuweisen?« fragte Nanny. Sie stieg aus und half Magrat.
»Bedauere fehr. Ef war ein anftrengender Tag…«
Nanny nahm die Fackel. Ihr Schein fiel auf ein primitives Schild, das jemand an einen Baum genagelt hatte.
»›Bleibt dem Schloß fern!!‹« las Nanny. »Wie aufmerksam: mit einem Pfeil, der die Richtung angibt.«
»Oh, dafür ift der alte Herr verantwortlich«, erklärte Igor. »Damit die Befucher den richtigen Weg finden.«
Nanny spähte durchs Halbdunkel. »Und wer hält sich jetzt im Schloß auf?«
»Einige Bedienstete.«
»Gewähren sie uns Einlaß?«
»Daf ift kein Problem.« Igor griff unter sein abscheuliches Hemd und zeigte einen ziemlich großen Schlüssel, der an einem Bindfaden hing.
»Hast du etwa vor, das Schloß der Vampire zu betreten?« fragte Magrat.
»Es scheint hier weit und breit das einzige Gebäude zu sein«, sagte Nanny und schritt über den Weg. »Die Kutsche ist ein Trümmerhaufen. Wir sind meilenweit vom nächsten Ort entfernt. Soll das Baby die ganze Nacht draußen verbringen? Ein Schloß ist ein Schloß. Es hat Schlösser. Alle Vampire sind in Lancre. Und…«
»Ja?«
»Esme hätte eine solche Entscheidung getroffen. Ich fühle es in meinem Blut.«
Nicht allzuweit entfernt heulte etwas. Nanny sah Igor an. »Werwölfe?« fragte sie.
»Ja.«
»Dann dürfte es keine gute Idee sein, im Freien zu bleiben.« Sie deutete auf einen Schriftzug in einem der Felsen.
»›Nehmt nicht diesen
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