Ruhig Blut!
Zusammenhang von Evolution.« »Die Personen auf den Bildern wirken sehr… mächtig«, kommentierte Agnes.
»Oh, ja. Sehr mächtig. Und gleichzeitig sehr, sehr dumm. Mein Vater glaubte, die Dummheit sei irgendwie in den Vampirismus eingebaut, als sei der Wunsch nach Blut mit einem kolossalen Mangel an Intelligenz verbunden. Mein Vater ist ein sehr ungewöhnlicher Vampir. Mutter und er haben uns… anders aufgezogen.«
»Anders«, wiederholte Agnes.
»Vampire sind nicht sehr familienorientiert. Vater hält das für normal. Menschen ziehen ihre Nachfahren groß, aber wir leben sehr lange, und deshalb sind unsere Nachkommen Rivalen. Unter solchen Umständen bleibt für familiäre Gefühle kaum Platz.«
»Verstehe.« In den Tiefen ihrer Tasche schlossen sich Agnes’ Finger um die Flasche mit dem Weihwasser.
»Vater meint immer, wir müßten uns selbst helfen – das sei der einzige Ausweg. Wir müßten den Kreis der Dummheit durchbrechen. Als Kinder bekamen wir ein wenig Knoblauch in unsere Nahrung, um uns daran zu gewöhnen. Vater versuchte es auch mit religiösen Symbolen, die ohnehin nie besonders gut wirken. Meine Güte, in unserem Kinderzimmer gab’s die seltsamste Tapete auf der ganzen Welt. Er ließ uns sogar tagsüber draußen spielen. Was uns nicht umbringt, macht uns stärker, sagte er immer…«
Agnes schwang den Arm. Weihwasser spritzte aus der Flasche und traf Vlad mitten auf der Brust.
Der Vampir breitete die Arme aus und schrie, als Wasser an ihm herabfloß und in die Schuhe tropfte.
Sie hatte nicht damit gerechnet, daß es so leicht sein würde.
Vlad hob den Kopf und zwinkerte.
» Sieh dir nur die Weste an! Sieh sie dir nur an! Weißt du, was Wasser mit Seide anstellt? Es hinterläßt Flecken, die man nie wieder herausbekommt.« Er bemerkte die Verblüffung in Agnes’ Gesicht und seufzte.
»Ich glaube, wir sollten einige Dinge klären.« Vlad sah zur Wand und entdeckte eine mit Spitzen ausgestattete Streitaxt. Er bot sie Agnes an. »Schlag mir damit den Kopf ab«, sagte er. »Ich löse sogar meine Krawatte, damit kein Blut darauf gerät. Na bitte. Es kann losgehen.«
»Willst du etwa behaupten, daß du auch hiermit aufgewachsen bist?« stieß Agnes hervor. »In der Art von ›Übungen mit dem Beil, direkt nach dem Frühstück‹? Hast du dir jeden Tag ein bißchen den Kopf abgeschnitten, damit es später nicht so weh tut?«
Vlad rollte mit den Augen. » Jeder weiß, daß die Enthauptung eines Vampirs international zulässig ist. Nanny Ogg hätte sicher längst mit der Axt ausgeholt. Na los, es stecken viele Muskeln in diesen ziemlich dicken Armen, da bin ich…«
Agnes holte aus.
Vlad griff von hinten an ihr vorbei und nahm die Axt aus einer Hand, die keinen nennenswerten Widerstand leistete.
»… sicher«, beendete er den angefangenen Satz. »Wir sind auch sehr schnell.«
Er prüfte die Klinge mit dem Daumen. »Stumpf. Mein liebes Fräulein Nitt. Vielleicht bedarf es weitaus mehr Mühe, uns loszuwerden, als es die Sache wert ist. Der alte Magyrato hätte Lancre bestimmt nicht das Angebot unterbreitet, mit dem wir gekommen sind. O nein, ganz bestimmt nicht. Ziehen wir plündernd durchs Land? Nein. Überfallen wir die Leute in ihren Schlafzimmern? Wohl kaum. Was bedeutet ein wenig Blut für das Wohl der Gemeinschaft? Verence muß natürlich zurückgestuft werden, aber seien wir doch ehrlich: Er ist kein König, eher ein Beamter. Und… unsere Freunde können von uns erwarten, daß wir dankbar sind. Welchen Sinn hätte es also, gegen uns zu kämpfen?«
»Sind Vampire jemals dankbar?«
»Wir können lernen.«
»Es läuft also darauf hinaus: Ihr bietet an, nicht direkt gemein zu sein,
nur böse. Das stimmt doch, oder?«
»Es läuft darauf hinaus, daß unsere Zeit gekommen ist«, ertönte eine Stimme hinter ihnen.
Sie drehten sich beide um.
Der Graf hatte die Galerie betreten. Er trug eine Hausjacke, und zwei Bewaffnete flankierten ihn.
»Meine Güte, Vlad… Spielst du mit deiner Nahrung? Guten Abend, Fräulein Nitt. Offenbar hat sich eine wütende Menge am Tor eingefunden, Vlad.«
»Im Ernst? Wie aufregend. Ich habe noch nie eine richtige wütende Menge gesehen.«
»Ich wünschte, deine erste Erfahrung damit würde interessanter sein«, sagte der Graf und schniefte.
»Es sitzt einfach keine Leidenschaft dahinter. Wie dem auch sei: Es wäre lästig, wenn der Lärm bis zum Abendessen und darüber hinaus andauert. Ich sage den Leuten, daß sie fortgehen sollen.«
Die Tür des Flurs
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