Ruhig Blut!
zuhören sollte. Jener Teil wuchs zusammen mit ihm auf. Er repräsentierte den Himmelwärts, der leidenschaftlich reagierte, sich immer an die Passagen erinnerte, die einen Schatten des Zweifels auf die unumstößliche Wahrheit des Buches Om warfen, ihn innerlich anstieß und sagte: Wenn dies nicht stimmt – was kannst du dann glauben?
Und die andere Hälfte von ihm sagte: Es muß andere Arten von Wahrheit geben.
Und dann erwiderte er: Meinst du andere Arten der Wahrheit, die wirklich wahr ist?
Und er sagte: Definiere »wirklich wahr«.
Und er rief: Vor nicht allzu langer Zeit hätten dich wirklich wahre Omnianer schon für solche Gedanken gefoltert. Erinnerst du dich daran? Erinnerst du dich daran, wie viele Menschen starben, weil sie ihr Gehirn benutzten, das Gott ihnen gab, wie du zu glauben scheinst? Welche Art von Wahrheit rechtfertigt all das Leid?
Es war ihm nie ganz gelungen, die Antwort in Worte zu fassen. Und dann kamen die Kopfschmerzen und die schlaflosen Nächte. Seit einiger Zeit folgte eine Kirchenspaltung noch schneller auf die andere, und selbst in seinem Kopf fand ein solcher Widerstreit statt.
Wenn er jetzt daran dachte, daß er ausgerechnet seiner Gesundheit wegen nach Lancre geschickt worden war… Pater Melchio hatte sich wegen seiner zitternden Hände und der Selbstgespräche Sorgen gemacht.
Hilbert Himmelwärts gürtete nicht seine Lenden, denn er wußte nicht genau, worauf es dabei ankam, und außerdem wagte er es nicht, entsprechende Fragen zu stellen. Aber er rückte seinen Hut zurecht und trat in die wilde Nacht unter die dichten, schweigenden Wolken.
Das Schloßtor öffnete sich, und Graf Elstyr trat nach draußen, begleitet von seinen Soldaten.
Er verhielt sich nicht so, wie es die narrative Tradition verlangte. Zwar erlebten die Bürger von Lancre so etwas jetzt zum erstenmal, aber auf einem tiefen, genetischen Niveau wußten sie: Wenn sich eine wütende Menge vor dem Schloß eingefunden hat, sollte derjenige, dem die Wut gilt, durch ein brennendes Laboratorium fliehen oder bei den Zinnen einen verzweifelten Cliffhanger-Kampf gegen den Helden führen.
Der Graf hingegen zündete sich eine Zigarre an.
Die wütende Menge vergaß ihre Wut und schwieg, Sensen und Heugabeln noch immer hoch erhoben. Das einzige Geräusch war das Knistern der brennenden Fackeln.
Der Graf blies einen Rauchring.
»Guten Abend«, sagte er, als der Ring zerfaserte. »Ihr seid vermutlich die wütende Menge.«
Jemand weiter hinten, der nicht ganz auf dem laufenden war, warf einen Stein. Graf Elstyr fing ihn, ohne hinzusehen.
»Die Heugabeln sind gut«, sagte er. »Ich mag Heugabeln, und eure Heugabeln werden zweifellos allen Anforderungen gerecht. An den Fackeln gibt es ebenfalls nichts auszusetzen. Aber die Sensen… Nein, nein, tut mir leid. Die sind hier fehl am Platz, fürchte ich. Glaubt mir: Sensen eignen sich nicht dafür, einer wütenden Menge als Waffen zu dienen. Einfache Sicheln sind viel besser. Wenn ihr Sensen schwingt, verliert früher oder später jemand ein Ohr. Mindestens. Versucht doch zu lernen.«
Er schlenderte zu einem großen Mann, der eine Heugabel hielt. »Wie heißt du, junger Mann?«
»Äh… Jason Ogg, Herr.«
»Du bist hier der Schmied?«
»Ja Herr?«
»Geht es Frau und Familie gut?«
»Ja, Herr.«
»Ausgezeichnet. Hast du alles, was du brauchst?«
»Äh… ja, Herr.«
»Gut. Mach ruhig weiter. Ich wäre euch dankbar, wenn ihr während
des Abendessens etwas leiser sein könntet, aber ich weiß natürlich, daß ihr eine wichtige traditionelle Rolle spielen müßt. Die Diener bekommen von mir den Auftrag, euch gleich heißen Grog zu bringen.« Der Graf klopfte die Asche von der Zigarre. »Oh, und ich möchte euch Feldwebel Kraput vorstellen, von seinen Freunden ›Krummer Bill‹ genannt, soweit ich weiß. Und dieser Herr, der gerade mit dem Messer in seinen Zähnen bohrt, ist Korporal Svitz, der keinen einzigen Freund hat, wenn ich recht informiert bin. Vielleicht besteht die Möglichkeit, daß er hier mit jemandem Freundschaft schließt. Nun, sie und ihre Männer sind… Soldaten, wenn man diesen Begriff großzügig auslegt und Platz genug läßt für so etwas wie lässigen Individualismus…« Bei diesen Worten grinste Korporal Svitz, hebelte einen Rationsbrocken aus einem gelben Backenzahn und schnippte ihn fort. »Wie dem auch sei: In etwa einer Stunde beginnt für sie der Dienst. Natürlich allein aus Sicherheitsgründen, versteht ihr…«
»Und dann schneiden wir euch
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