Ruhig Blut!
Weißt du, ich habe sie auf meinen Reisen kennengelernt. Seltsame alte Männer mit Perlen und Federn, die ihr Bewußtsein auf einen Fisch übertragen konnten, ein Insekt, sogar auf einen Baum. Als wenn das eine Rolle spielte. Holz brennt. Tut mir leid, Frau Wetterwachs. König Verence betont gern: Es gibt eine neue Weltordnung. Und die sind wir. Du bist Geschichte…«
Er zuckte zusammen. Die drei Hexen fielen auf den Boden.
»Gut gemacht«, lobte der Graf. »Ein Schuß vor meinen Bug. Ich habe ihn gespürt. Ich habe ihn tatsächlich gespürt. Nie hat jemand in Überwald so etwas fertiggebracht.«
»Ich bin zu weitaus mehr fähig«, sagte Oma.
»Das bezweifle ich«, erwiderte der Graf. »Wenn du wirklich zu mehr fähig wärst, hättest du davon inzwischen Gebrauch gemacht. Nach dem Motto: Keine Gnade für den Vampir! Die Schreie der wütenden Menge hallen durch die Jahrhunderte…«
Er schlenderte der alten Hexe entgegen. »Glaubst du vielleicht, man kann uns wie dumme Elfen oder hirnlose Menschen mit energischem Gebaren und dem einen oder anderen Trick einschüchtern? Wir sind jetzt aus dem Sarg heraus, Frau Wetterwachs. Ich bin bestrebt gewesen, dir mit Verständnis zu begegnen, denn eigentlich haben wir viel gemeinsam, aber jetzt…«
Omas Leib zuckte zurück wie eine Papierpuppe, die plötzlich vom Wind erfaßt wurde.
Der Graf war auf halbem Wege zu ihr, und seine Hände steckten in den Taschen der Hausjacke. Er zögerte kurz.
»Meine Güte, davon habe ich kaum etwas gemerkt«, sagte er. »Zu mehr bist du nicht fähig?«
Oma taumelte, schaffte es jedoch, die Hand zu heben. Ein schwerer Stuhl an der Wand geriet in Bewegung und schlitterte durch den Saal. »Das war recht gut, für einen Menschen«, sagte der Graf. »Aber ich glaube nicht, daß du ihn in Bewegung halten kannst.«
Oma zuckte zusammen und hob die andere Hand. Ein großer Kerzenleuchter schwang von einer Seite zur anderen.
»Nicht übel«, kommentierte der Graf. »Aber leider nicht gut genug. Nicht annähernd gut genug.«
Oma wich zurück.
»Aber ich verspreche dir folgendes«, fuhr der Graf fort. »Ich werde dich nicht töten. Ganz im Gegenteil…«
Unsichtbare Hände packten Oma und preßten sie an die Wand.
Agnes wollte vortreten, doch Magrats Hand schloß sich fest um ihren Arm.
»Du solltest keine Niederlage darin sehen, Oma Wetterwachs«, sagte der Graf. »Du bleibst am Leben, und zwar für immer. Das ist doch ein gutes Angebot, oder?«
Es gelang Oma, mißbilligend zu schniefen.
»Mir genügt es nicht«, sagte sie. Ihr Gesicht wurde zu einer schmerzverzerrten Fratze.
»Auf Wiedersehen«, sagte der Graf.
Die Hexen fühlten den mentalen Schlag. Der Große Saal erzitterte. Doch in einer Sphäre außerhalb der normalen Realität gab es noch etwas anderes. Dort glänzte etwas, hell und silbrig, glitt wie ein Fisch davon…
»Sie ist fort«, flüsterte Nanny. »Sie hat ihr Selbst an einen anderen Ort geschickt…«
»Wohin?« raunte Magrat. »Wohin?«
»Denk nicht daran!« warnte Nanny.
Magrats Miene erstarrte.
»O nein… «, begann sie.
»Denk nicht daran!« brachte Nanny eindringlich hervor. »Denk nicht
daran! Rosarote Elefanten! Rosarote Elefanten!«
»Sie würde doch nicht…«
»Lalalala! Eh-ieh-eh-la!« rief Nanny und zog Magrat zur Küchentür.
»Komm, laß uns gehen! Agnes, jetzt liegt’s bei euch beiden!«
Hinter ihnen fiel die Tür zu, und Agnes hörte, wie die Riegel vorgeschoben wurden. Es war eine dicke Tür mit sehr stabilen Riegeln. Die Erbauer des Schlosses hatten nichts von Brettern gehalten, die nicht mindestens siebeneinhalb Zentimeter dick waren, und in ihrer Vorstellungswelt war kein Platz für Verriegelungssysteme, die keinem Rammbock standhalten konnten.
Ein Beobachter hätte das Verhalten von Nanny und Magrat vielleicht als egoistisch beurteilt, doch eigentlich lief es auf folgendes hinaus: Aus drei Hexen in Gefahr wurde eine Hexe in Gefahr. Drei Hexen hätten zuviel Zeit damit vergeudet, sich über die anderen Sorgen zu machen und darüber zu diskutieren, was es zu tun galt. Eine Hexe war ihr eigener Herr.
Agnes wußte das natürlich. Trotzdem erschien ihr das Gebaren von Nanny und Magrat selbstsüchtig.
Der Graf trat Oma entgegen. Aus den Augenwinkeln sah Agnes, daß sich ihr Vlad und seine Schwester näherten. Sie hatte eine massive Tür im Rücken. Perdita konnte ihr keine Ideen anbieten.
Sie schrie.
Das war ein Talent. Ein zweites Selbst im Kopf herumzutragen war kein Talent, sondern eine Art Fluch.
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