Ruhig Blut!
in dem er sie ein wenig dafür tadelte, daß sie noch
nicht auf seinen ersten Brief geantwortet hatten.
»… Schweigen ist eine Antwort, aus der sich drei weitere Fragen ergeben. Suchet und ihr werdet finden, aber zuerst sol tet ihr wissen, wonach es zu suchen gilt…«
Oh, na schön. Himmelwärts schloß das Buch.
Welch ein Ort! Einfach schrecklich ! Nach dem Gottesdienst hatte er einen Spaziergang gemacht und festgestellt, daß jeder Weg an einer Klippe
oder einem steilen Abhang endete. Nie zuvor war er in einem so vertika-
len Land gewesen. Es hatte bedrohlich in den Büschen geraschelt, und seine Schuhe waren schmutzig geworden. Und was die Bewohner betraf… Nun, sie waren einfache, unwissende Leute, Salz der Erde und so
weiter. Wie dem auch sei: Sie wahrten eine gewisse Distanz und beo-
bachteten ihn aufmerksam, als warteten sie darauf, daß etwas mit ihm
geschah – und als wol ten sie ihm nicht zu nahe sein, wenn es geschah.
Andererseits hieß es in Bruthas Brief an die Simoniten: Wenn man wol -
te, daß die anderen das Licht sahen, mußte man das Licht zu dunklen
Orten bringen. Und dies hier war ganz gewiß ein dunkler Ort.
Himmelwärts sprach ein kurzes Gebet und trat in die schmutzige, win-
dige Dunkelheit.
Oma Wetterwachs flog hoch über den Baumwipfeln unter einem halben
Mond.
Solch einem Mond begegnete sie mit Argwohn. Der Vol mond konnte
nur abnehmen, der Neumond nur zunehmen. Ein Halbmond hingegen,
der unsicher zwischen Licht und Finsternis balancierte… Von einem
Halbmond konnte man alles erwarten.
Hexen lebten immer am Rand der Dinge. Sie spürte ein Prickeln in den
Händen, und das nicht von der kalten Luft – irgendwo gab es einen
Rand. Etwas begann.
Auf der anderen Seite des Himmels glühten die Mittlichter an den Ber-
gen im Zentrum der Welt, hel genug, um mit dem blassen Mondschein
zu wetteifern. Grüne und goldene Flammen tanzten über den zentralen
Massiven. Um diese Jahreszeit sah man sie nur selten, und Oma fragte
sich, was das bedeuten mochte.
Der Ort Schnitte erstreckte sich auf beiden Seiten einer Kluft, die es
nicht verdiente, als »Tal« bezeichnet zu werden. Im matten Schein des
Mondes sah Oma blasse Gesichter, die im Schatten des Gartens warteten
und nach oben blickten, als sie zur Landung ansetzte.
»Guten Abend, Herr Efeu«, sagte sie und sprang vom Besen herunter.
»Sie ist oben, nicht wahr?«
»In der Scheune«, erwiderte Efeu. »Die Kuh hat sie getreten.«
Omas Gesicht blieb ausdruckslos.
»Ich werde sehen, was ich tun kann«, sagte sie. Als sie in der Scheune
Frau Pattenbuschs Gesicht sah, begriff sie sofort, daß es kaum Hoffnung
gab. Die Frau war keine Hexe, aber sie kannte sich mit praktischer Ge-
burtshilfe aus, ob es dabei um Menschen oder Kühe, Ziegen oder Pferde
ging.
»Es ist schlimm«, flüsterte sie, als Oma auf die im Stroh liegende und
stöhnende Gestalt hinabsah. »Ich fürchte, wir verlieren beide. Oder viel-
leicht nur einen…«
In ihren Worten ließ sich die Andeutung einer Frage vernehmen. Oma
Wetterwachs konzentrierte sich.
»Es ist ein Junge«, sagte sie.
Frau Pattenbusch fragte nicht, woher Oma das wußte, doch ihre Miene
deutete darauf hin, daß die Bürde noch etwas schwerer geworden war.
»Ich sollte besser gehen und mit Herrn Efeu sprechen«, sagte sie.
Frau Pattenbusch hatte sich kaum bewegt, als Oma Wetterwachs sie
am Arm festhielt.
»Ihn geht dies nichts an«, sagte sie.
»Aber er ist…«
»Ihn geht dies nichts an.«
Frau Pattenbusch sah in blaue Augen und verstand zwei Dinge. Was
auch immer in der Scheune geschah: Es ging Herrn Efeu tatsächlich
nichts an – und es durfte nie darüber gesprochen werden.
»Ich erinnere mich an sie«, sagte Oma. Sie ließ Frau Pattenbusch los
und rollte die Ärmel hoch. »Ein nettes Paar, wenn ich mich recht entsin-
ne. Und was ihn betrifft… Er ist ein guter Ehemann, nach al em, was
man hört.« Sie nahm den Krug und fül te die im Futtertrog bereitgestel te
Schüssel mit warmem Wasser.
Frau Pattenbusch nickte.
»Für einen Mann ist es natürlich nicht leicht, dieses steile Land allein zu
bestel en«, fuhr Oma fort und wusch sich die Hände. Frau Pattenbusch
nickte erneut, diesmal recht kummervol .
»Nun, ich schätze, du solltest Herrn Efeu ins Haus führen und ihm
dort Tee kochen«, befahl Oma. »Sag ihm, ich gebe mir al e Mühe.«
Das dritte Nicken der Hebamme wirkte dankbar.
Als sie geflohen war, legte Oma die Hand auf Frau Efeus
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