Ruhig Blut!
praktisch ein unumschränkter Herrscher war
und es auch weiterhin sein würde, vorausgesetzt, er forderte die Lanc-
restianer nicht immer wieder zu Dingen auf, die sie ablehnten. Er wußte
auch, daß der Oberbefehlshaber seiner Streitkräfte eher den Befehlen
seiner eigenen Mutter gehorchte als den Anweisungen des Königs.
Die Große Aggie hingegen brauchte nicht einmal etwas zu sagen. Alle
sahen sie nur an und machten sich sofort an die Arbeit.
Der Bedienstete der Großen Aggie erschien an ihrer Seite.
»Die Große Aggie glaubt, daß du deine Frau und dein Kind retten
möchtest«, sagte er.
Verence nickte. Zu einer anderen Reaktion fühlte er sich nicht kräftig
genug.
»Aber sie glaubt auch, daß du noch immer sehr schwach bist, wegen
des Blutverlusts. Der Biß eines Vampirs hat etwas, das sein Opfer gefü-
gig werden läßt.«
Verence konnte diesen Worten nur beipflichten. Was auch immer ge-
sagt wurde – er war in jedem Fal der gleichen Meinung.
Ein weiterer Kobold kam aus dem Rauch und trug eine tönerne Schale.
Weiße Flüssigkeit schwappte über ihren Rand.
»Ein König kann nicht die ganze Zeit auf dem Boden liegen«, sagte der
Bedienstete der Großen Aggie. »Deshalb hat die Kelda Grütze für dich
zubereitet…«
Der Kobold ließ die Schale sinken. Sie schien Rahm zu enthalten, doch
hier und dort zeichneten sich dunkle Spiralen unter der weißen Oberflä-
che ab. Der Schalenträger trat ehrfürchtig zurück.
»Was ist das?« krächzte Verence.
»Milch«, erwiderte der Bedienstete sofort. »Und ein speziel es Gebräu
der Großen Aggie. Und Kräuter.«
Verence klammerte sich dankbar am letzten Wort fest. Er teilte mit
seiner Frau die ebenso seltsame wie unerschütterliche Überzeugung, daß
Speisen mit Kräutern in jedem Fal gesund und nahrhaft waren.
»Du sol st hiervon trinken«, sagte der alte Kobold. »Und dann besor-
gen wir dir ein Schwert.«
»Ich habe nie ein Schwert benutzt.« Verence versuchte sich aufzuset-
zen. »Ich… ich halte Gewalt nicht für ein geeignetes Mittel, um Proble-
me zu lösen…«
»Ach, solange du Eimer und Spaten dabei hast«, sagte der Bedienstete.
»Trink jetzt, König. Bald wirst du die Dinge ganz anders sehen.«
Die Vampire flogen über den vom Mondschein erhel ten Wolken. Hier
oben gab es kein Wetter – und auch keine Kälte, wie Agnes überrascht
feststellte.
»Ich dachte, ihr verwandelt euch in Fledermäuse!« rief sie Vlad zu.
»Oh, dazu sind wir durchaus imstande.« Er lachte. »Aber meinem Va-
ter ist das zu melodramatisch. Er betont immer wieder, wir sollten uns
nicht wie stereotype Figuren verhalten.«
Ein Mädchen glitt neben ihnen dahin. Es sah aus wie Lacrimosa, be-
ziehungsweise wie jemand, der Lacrimosas Erscheinungsbild bewunderte
und ebenso aussehen wollte. Bestimmt ist sie keine echte Brünette, sagte Perdita. Und wer soviel Wimperntusche verwendet, sollte zumindest nicht wie Pauli der fröhliche Panda aussehen.
»Das ist Morbidia«, sagte Vlad. »Seit einiger Zeit nennt sie sich Tracy,
um cool zu sein. Mor… Tracy, das ist Agnes.«
»Was für ein toller Name!« entfuhr es Morbidia. »Da hast du wirklich
eine gute Wahl getroffen! Vlad, wie wär’s mit einem Abstecher nach
Eskrau? Das ist auch der Wunsch der anderen.«
»Nun, ich…«, begann Agnes, aber der Wind trug ihre Worte davon.
»Eigentlich wollten wir zum Schloß«, erwiderte Vlad.
»Ja, aber einige von uns haben seit Tagen keine Nahrung mehr zu sich
genommen, und die alte Frau war kaum mehr als ein kleiner Imbiß, und
der Graf erlaubt uns noch nicht, in Lancre zu speisen, und er meint,
Eskrau sei in Ordnung, und eigentlich ist es gar kein großer Umweg.«
»Na schön. Wenn Vater damit einverstanden ist…«
Morbidia flog fort.
»Seit Wochen sind wir nicht mehr in Eskrau gewesen«, sagte Vlad. »Es
ist ein angenehmer kleiner Ort.«
»Ihr wollt dort speisen ?« fragte Agnes.
»Du machst dir völlig falsche Vorstellungen.«
»Du weißt überhaupt nicht, was ich mir vorstelle.«
»Ich kann’s mir denken.«
Vlad lächelte. »Vielleicht war Vater deshalb einverstanden, weil er
möchte, daß du den Ort siehst. Man kann so leicht Angst vor Dingen
haben, die man nicht kennt. Und viel eicht bekommst du Gelegenheit, in
die Rol e einer Botschafterin zu schlüpfen, um Lancre mitzuteilen, wie
das Leben unter der Elstyr-Herrschaft abläuft.«
»Menschen, die nachts aus ihren Betten gezerrt werden, Blut an den
Wänden… Meinst du so
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