Ruhig Blut!
Wetterwachs. Ich habe dir nicht
einmal eine Broschüre gegeben.«
»Das stimmt. Aber du möchtest, daß ich denke: ›Oh, was für ein netter
junger Mann, sein Gott muß wirklich etwas Besonderes sein, wenn nette
junge Männer wie er alten Damen wie mir helfen.‹ Habe ich recht?«
»Nein.«
»Und wenn schon: Es klappt nicht. An Menschen kann man glauben,
manchmal, aber nicht an Götter. Und ich will dir noch etwas sagen, Herr
Himmelwärts…«
Er seufzte. »Ja?«
Oma wandte sich ihm zu und wirkte plötzlich sehr lebendig. »Eigent-
lich sol te es dir nur recht sein, daß ich nicht glaube«, sagte sie und poch-te ihm mit einem spitzen Zeigefinger auf die Brust. »Dieser Om… Hat
man ihn jemals gesehen?«
»Dreitausend Personen sol en beobachtet haben, wie er sich beim
Großen Tempel manifestierte, als er seine Vereinbarung mit dem Pro-
pheten Brutha traf und ihn vor dem Foltertod auf der eisernen Schild-
kröte rettete…«
»Aber heute streiten diese Leute bestimmt darüber, was sie eigentlich gesehen haben.«
»Nun, ja, es gibt natürlich unterschiedliche Meinungen…«
»Verstehe. Tja, so sind die Leute eben. Wenn ich deinen Gott gesehen hätte, in Fleisch und Blut, so käme eine Art Fieber über mich. Wenn ich
davon überzeugt wäre, daß es wirklich einen Gott gibt, dem das Schick-
sal der Menschen nicht völlig schnurz ist, der sie wie ein Vater beobach-
tet und sich wie eine Mutter ihrer annimmt… In dem Fal käme mir be-
stimmt kein Unsinn in der Art von ›Bei jeder Frage gibt es unterschiedli-
che Aspekte‹ und ›Wir müssen den Glauben anderer Menschen respek-
tieren‹ in den Sinn. Ich würde nicht einfach nur deshalb zu anderen Leuten nett sein, weil ich hoffte, dafür irgendwann einmal göttlichen Lohn
zu empfangen. Solch ein Verhalten wäre mir unmöglich, wenn die
Flamme des Glaubens wie ein erbarmungsloses Schwert in mir brennen
würde. Ich spreche hier von ›brennen‹, Herr Himmelwärts, und genau
darauf läuft es hinaus. Du sagst, daß eure Kirche inzwischen niemanden
mehr auf dem Scheiterhaufen verbrennt oder opfert, aber wahrer Glaube
würde genau das bedeuten, verstehst du? Das eigene Leben der Flamme
opfern, Tag für Tag, die Wahrheit verkünden, dafür arbeiten, ihre Essenz
atmen. Das ist Religion. Al es andere beschränkt sich darauf, einfach nur ein wenig nett zu sein und ein gutes Verhältnis zu den Nachbarn zu pfle-gen.«
Oma entspannte sich ein wenig und fuhr mit ruhigerer Stimme fort:
»So würde ich denken und fühlen, als wahre Gläubige. Und ich fürchte,
so etwas kommt derzeit nicht in Frage, denn wenn man heute Böses
sieht, muß man offenbar mit den Händen ringen und sagen: ›Ach du
meine Güte, wir müssen darüber diskutieren.‹ Nein, davon halte ich
nichts, denn es hieße die Dinge ruhen zu lassen. Laufe dem Glauben
nicht nach, denn du wirst ihn nie einholen«, fügte sie fast apart hinzu.
»Aber viel eicht kannst du ein Leben auf seiner Grundlage führen.«
Ihre Zähne klapperten, als eiskalter Wind das nasse Kleid um ihre Knie
flattern ließ.
»Hast du noch ein Buch mit heiligen Worten dabei?« fragte Oma.
»Nein«, sagte der noch immer schockierte Himmelwärts. Er dachte:
Mein Gott, wenn sie jemals eine Religion für sich findet – was käme
dann aus diesen Bergen, um über die Ebene zu ziehen? Mein Gott… Ich
habe gerade »mein Gott« gedacht…
»Auch kein Gesangsbuch?« fragte Oma.
»Nein.«
»Steckt viel eicht ein dünnes Buch mit Gebeten für al e Gelegenheiten
in deiner Hosentasche?«
»Nein, Oma Wetterwachs.«
»Mist.« Oma sank langsam nach hinten und faltete sich wie ein leeres
Gewand zusammen.
Himmelwärts sprang zu ihr und fing sie auf. Eine dünne weiße Hand
schloß sich so fest um seinen Unterarm, daß er unwillkürlich aufschrie.
Dann entspannte sich Oma und erschlaffte in seinem Griff.
Etwas veranlaßte Himmelwärts, den Kopf zu heben.
Nicht weit entfernt saß eine dunkle Gestalt auf einem weißen Pferd.
Sie trug einen schwarzen Kapuzenmantel, und vages blaues Glühen um-
gab sie.
»Verschwinde!« rief der Priester. »Reite fort, oder ich… oder ich…«
Er ließ Oma Wetterwachs auf einige Grasbüschel sinken, nahm ein
wenig Schlamm und warf ihn durch die Nacht. Dann lief er los und
schlug mit den Fäusten auf etwas ein, das plötzlich nur noch aus Schat-
ten und wogenden Nebelschwaden bestand.
Rasch kehrte er zur alten Hexe zurück, legte sie sich behutsam über die
Schulter und
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