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Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascale Hugues
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Weihnachten wieder zu benutzen. «Heute wird alles so übertrieben. Meine Güte! Dauernd wird angeboten, angeboten. Alle verrückten Sachen werden verkauft. Ja. Ja. Die Kinder heute leben im Scharaffenland. Unserer Gesellschaft fehlt die Not als Antrieb. Die Not verändert alles. Sie macht erfinderisch. Damals waren die Menschen flexibler, geschmeidiger. Der Mensch ist heute so eingeengt.»

Und dabei haben sie den Krieg verloren!
    Als hätte man ein neues Dia in den Projektor geschoben. Klick. Klack. Die hohen, stuckverzierten wilhelminischen Bauten sind weg. Auf der Leinwand ein leuchtend weißes Viereck. Und jetzt das neue Dia: viergeschossige Blöcke mit Flachdach, schlicht, schnörkellos. Ende der fünfziger Jahre ändert meine Straße ihr Erscheinungsbild radikal. Die übermütigen Bauherren von 1904 treten ab. Platz für den nüchternen Westberliner Senat mit seinem Aufbau-Programm für subventionierte Wohnungen.
    Die Stadtplaner der Nachkriegszeit haben es eilig. Es muss gehandelt werden – all diese Leute auf der Straße, die Ausgebombten und Flüchtlinge aus den verlorenen Ostgebieten, brauchen ein Dach über dem Kopf. Auf dem Schriftverkehr des Senators für Bau- und Wohnungswesen, Baupolizeiamt Schöneberg erscheint mit blauer Tinte der Stempel «Eilt!».
Eilt!
Keine Zeit, an den alten, baufälligen Gebäuden herumzuflicken, die überall Risse bekommen. Sie müssen gesprengt werden. Die Fotografen Scholz und Westphal verewigen jede Ruine, bevor sie gesprengt wird. Der miserable Zustand muss dokumentiert werden, um im Fall einer Klage eines ehemaligen Eigentümers, der zwar noch kein Lebenszeichen gegeben hat, aber irgendeines Tages auftauchen könnte, gerüstet zu sein. Auf der Rückseite jedes Bildes steht das Abrissdatum. Numéro  2 . Gespr.  21 .  4 .  1949 . Numéro  8 . Gespr.  28 .  3 .  1949 . Numéro  11 . Gespr.  6 .  7 .  1949 . Numéro  20 / 21 . Gespr.  27 / 28 .  7 .  1949 . Numéro  27 . Gespr.  20 .  4 .  1949 . Numéro  30 . Ruine gespr. 13 .  4 .  1949 . Die Ruinen der Nummern  9 , 11 , 19 – 22 werden erst Anfang 1960 gesprengt. Es gibt so viele Löcher zu stopfen.
Eilt!
Kommt nicht in Frage, die Zeit mit Ästhetik zu vertrödeln, stundenlang an den Plänen einer avantgardistischen Architektur herumzufeilen, eine neue Straße zu erfinden.
Eilt!
Schnell, einfach, effizient und vor allem sozial muss es zugehen. Licht, Luft, Sonne, heißt die Devise. Schluss mit den dunklen Hinterhöfen, dem engen Straßennetz, den aneinandergequetschten Häusern. Es muss aufgelockert werden. Vor die Neubauten kommt ein breiter Grünstreifen, darum herum ein Zaun. Die einstige Baufluchtlinie wird zerstört. Legt man die beiden Straßenpläne aufeinander, den alten von vor dem Krieg und den heutigen, sieht man, dass der Verlauf eine leichte Abweichung erfahren hat. Die neue Straße ist schief.
    Die Wohnungen in den Neubauten sind warm und hell, haben klare Grundrisse und kleine Räume mit niedrigen Decken. Mit den alten Türen, die sich nur schwer und unter Quietschen öffnen lassen, ist Schluss, ebenso mit den undichten Kastenfenstern, die den ewigen Durchzug verursachen. Mit den monumentalen Räumen, die unmöglich zu möblieren und zu beheizen sind. Mit den qualmenden Öfen, die eine feuchte und übelriechende Wärme verströmen, stattdessen gibt es regulierbare Radiatoren und Sammelheizung. Einen Neubau zu beziehen ist ein Zeichen des sozialen Aufstiegs. Über der Eingangstür die Messingplakette des Aufbau-Programms. Der Berliner Bär, von der Seite, hebt die Pfote und streckt die Zunge heraus.
     
    Von den seltenen Altbauten, die noch stehen, blättert der Stuck, bröckelt da und dort auf den Gehsteig. Kein Eigentümer hat die Mittel, die raffinierte Fassadendekoration zu restaurieren. Und der Stuck ist ohnehin schon eine ganze Weile aus der Mode gekommen. «Verlogen! Zu pompös! Rückständig! Protzenhaft! Handwerklich minderwertig! Hässlich!», kritisieren die Wohnungsreformer und Pioniere der neuen Architektur. Ich wage nicht, mir die Bestürzung der Stuckateure meiner Straße vom Anfang des letzten Jahrhunderts vorzustellen, wenn sie sich dieses Lästerkonzert anhören müssten. Und die Verzweiflung Georg Haberlands, wenn er sein Lebenswerk derart verunglimpft sähe. In den Jahren des Wiederaufbaus wird der Stuck abgeschlagen. Im Übrigen haben die neuen Bewohner meiner Straße genug davon, jeden Tag mit dieser Vergangenheit konfrontiert zu werden, die vor ihren Augen

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