Ruht das Licht
bleiben, oh Gott, ich wollte bleiben – und Cole klopfte ans Fenster. Zitternd stand er im kalten Wind, während ich verlegen die Scheibe herunterkurbelte.
»Vielleicht steckst du ihr lieber nicht die Zunge in den Hals, ihr Vater steht nämlich da am Fenster. Und du« ,er sah Grace an, »beeilst dich lieber ein bisschen, weil du« ,jetzt sah er mich an, »jeden Moment meine Klamotten aufsammeln musst, und dafür willst du wohl eher kein Elternpublikum, oder?«
Grace’ Augen weiteten sich. »Sie sind zu Hause?«
Cole deutete mit dem Kinn auf das andere Auto in der Auffahrt. Grace starrte es entsetzt an und bestätigte so meine Vermutung, dass unser Studiobesuch nicht genehmigt gewesen war. »Sie haben doch gesagt, es wird spät. Von dieser Ausstellung kommen sie normalerweise immer erst nach zwölf zurück.«
»Ich komme mit rein«, sagte ich, obwohl ich mich lieber aufgehängt hätte. Cole sah mich an, als könnte er meine Gedanken lesen.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Das mache ich besser ohne dich. Ich will nicht, dass sie dich anschreien.«
»Grace«, sagte ich.
»Nein«, wiederholte sie. »Es bleibt dabei. Ich komm schon klar. Da muss ich jetzt durch.«
Und das war – in aller Kürze betrachtet – wohl mein Leben: Grace hastig zum Abschied küssen, ihr Glück wünschen, sie loslassen, dann meine Autotür öffnen, um Cole vor neugierigen nachbarlichen Blicken zu schützen.
Cole kauerte zitternd auf dem Asphalt und sah zu mir hoch. »Warum hat sie Hausarrest?«
Ich warf ihm einen kurzen Blick zu und richtete meine Aufmerksamkeit dann wieder auf das Haus, um sicherzugehen, dass uns niemand beobachtete. »Weil ihre chronisch abwesenden Eltern beschlossen haben, mich zu hassen. Was wahrscheinlich damit zu tun hat, dass ich bei ihr im Bett übernachtet habe.«
Coles Augenbrauen hoben sich zu spitzen Bögen, doch er sagte nichts dazu, sondern dachte erst nach. Er senkte den Kopf, während seine Schultern erschauderten. »Stimmt es, dass sie sie im Auto haben schmoren lassen?«
»Ja. Und das ist eine Metapher für ihre gesamte Beziehung zu ihr.«
»Wie nett.« Kurz darauf sagte er: »Warum dauert das denn so lange? Vielleicht hatte ich doch unrecht.«
Er roch schon nach Wolf. Ich schüttelte den Kopf. »Das kommt daher, dass du währenddessen mit mir redest. Kämpf nicht dagegen an.«
Mittlerweile kauerte er da wie ein Läufer, die Finger gespreizt auf dem Asphalt, ein Knie gebeugt, als sei er bereit, jeden Moment loszurennen. Er fing an: »Letzte Nacht – ich wusste nicht –«
Ich unterbrach ihn. Und sagte, was ich schon längst hätte sagen sollen. »Ich war niemand, als Beck mich mit zu sich genommen hat, Cole. Ich war kaputt, ich habe einfach nicht mehr funktioniert. Ich habe kaum was gegessen, und wenn irgendwo Wasser lief, hab ich geschrien. Daran erinnere ich mich aber nicht. Mein Gedächtnis ist voller riesiger Lücken. Ich bin immer noch kaputt, aber nicht mehr so schlimm, wie es mal war. Wer bin ich denn schon, um infrage zu stellen, dass Beck dich ausgewählt hat? Niemand.«
Cole warf mir einen seltsamen Blick zu und übergab sich dann auf die Straße. Zuckend und bebend brach er aus seiner menschlichen Gestalt aus. Er zerriss sein T-Shirt und prallte gegen mein Auto. Dann, als Wolf, hockte er lange zitternd in der Einfahrt, bevor ich ihn schließlich dazu bekam, dass er im Wald hinter dem Haus verschwand.
Als er fort war, stand ich noch lange in der offenen Autotür und starrte Grace’ Haus an, wartete darauf, dass das Licht in ihrem Zimmer anging, und träumte mich dorthin. Ich vermisste das Rascheln der Seiten, wenn sie in ihren Hausaufgaben blätterte, während ich auf ihrem Bett lag und Musik hörte. Ich vermisste ihre kalten Füße an meinen Beinen, wenn sie ins Bett kam. Ich vermisste ihren Schatten, der auf mein aufgeschlagenes Buch fiel. Ich vermisste den Duft ihres Haars und das Geräusch ihrer Atemzüge, meinen Rilke auf ihrem Nachttisch und ihr nasses Handtuch über der Lehne ihres Schreibtischstuhls. Ich dachte, dass nach einem ganzen Tag mit ihr mein Hunger doch gestillt sein müsste, aber stattdessen vermisste ich sie nur umso mehr.
KAPITEL 39
GRACE
Es fühlte sich seltsam befreiend an zu wissen, dass ich geradewegs in eine Katastrophe hineinmarschierte. Mir wurde klar, dass ich mich den ganzen Tag gefragt hatte, was passieren würde, wenn sie mich erwischten, oder ob sie es überhaupt herausfinden würden. Jetzt musste ich wenigstens nicht mehr darüber
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