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Ruht das Licht

Ruht das Licht

Titel: Ruht das Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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er über meinem Körper, ohne mit ihm verbunden zu sein.
    Ich hatte den Geschmack von Kupfer im Mund und egal, wie oft ich schluckte, ich wurde ihn nicht los.
    Alles fühlte sich so falsch an.
    Was ist los mit mir?
    Es gab niemanden, den ich hätte fragen können, also fing ich an, die Anhaltspunkte aufzulisten. Die Magenschmerzen. Das Fieber. Nasenbluten. Müdigkeit. Der Wolfsgeruch. Die Art, wie die Wölfe mich angesehen hatten; die Art, wie Isabel mich angesehen hatte. Sams Finger auf meinem Arm, als ich gehen musste, unsere letzte Umarmung. Das alles kam mir vor wie ein einziger langer Abschied.
    Und schließlich konnte ich es nicht mehr leugnen.
    Auch wenn es vielleicht nur ein Virus war. Auch wenn es vielleicht etwas Ernstes, aber doch Heilbares war. Auch wenn ich eigentlich gar nicht wissen konnte, dass … Aber ich wusste es.
    Diese Schmerzen – das war meine Zukunft. Ein Wandel, den ich nicht aufhalten konnte. Und wenn ich noch so sehr von roten Kaffeemaschinen träumte – mein Körper würde das letzte Wort haben.
    Ich setzte mich im Dunkeln auf, kämpfte gegen den Wolf in mir an, riss die Bettdecke hoch und knüllte sie in meinem Schoss zusammen. Ich wollte bei Sam sein. Die kühle Luft prickelte mir auf den Wangen und den nackten Schultern. Ich wünschte, ich wäre noch in Becks Haus gewesen, wieder in Sams Bett unter dem Schlafzimmerhimmel voller Vögel. Ich schluckte die Schmerzen hinunter, zwang sie zurück. Wenn ich jetzt bei ihm gewesen wäre, hätte er die Arme um mich gelegt und mir gesagt, dass alles wieder gut würde, und das wäre es dann auch, zumindest für diese eine Nacht.
    Ich stellte mir vor, ich würde dorthin zurückfahren. Sein Gesicht.
    Ich rieb meine nackten Füße aneinander. Natürlich war das alles dumm. Es gab tausend Gründe hierzubleiben, aber …
    Ich verdrängte das schrille Rauschen in meinem Kopf. Konzentrierte mich. Stellte im Geist eine Liste der Sachen auf, die ich brauchen würde. Ich würde mir eine Jeans aus der mittleren Kommodenschublade nehmen und einen Pullover und ein Paar Socken anziehen. Meine Eltern würden es nicht hören. So sehr quietschten die Bodendielen nicht. Es war möglich. Oben hatte sich jetzt schon lange nichts mehr bewegt. Und wenn ich meine Scheinwerfer nicht anstellte, würden sie vielleicht gar nicht merken, wie ich aus der Einfahrt fuhr.
    Mein Herz klopfte bei dem Gedanken an meine Flucht.
    Ich wusste, es war alles andere als klug, mir jetzt noch mehr Ärger mit meinen Eltern einzuhandeln, so wütend, wie sie ohnehin schon waren. Ich wusste, das Fahren würde jetzt nicht einfach werden, mit dem tosenden Blut in meinen Ohren und dem Fieber, das mir über die Haut kroch. Aber noch mehr Ärger war ja eigentlich gar nicht möglich. Sie hatten mir schließlich schon verboten, ihn wiederzusehen. Was sollte denn noch schlimmer sein?
    Und außerdem wusste ich nicht, wie viele Nächte mir noch blieben.
    Ich dachte daran, wie verächtlich meine Mom mir den Unterschied zwischen Liebe und Sex erklärt hatte. Daran, wie ich danach durch den Wald gelaufen war und verzweifelt versucht hatte, mir ein schlechtes Gewissen einzureden, weil ich sie angeschrien hatte. Ich dachte an meinen Dad, wie er meine Zimmertür geöffnet hatte, um zu sehen, ob Sam bei mir war. Daran, wie lange es her war, dass sie mich zum letzten Mal gefragt hatten, wo ich gewesen sei, wie es mir ginge, ob ich irgendwas bräuchte.
    Wenn man meine Eltern sah, wusste man sofort, dass sie eine Familie waren. Nach all der Zeit interessierten sie sich noch immer für die Kleinigkeiten im Leben des anderen. Auch als ich Beck kennenlernte, merkte ich sofort, wie gut er Sam kannte. Wie sehr er ihn liebte. Und Sam, wie er die Erinnerung an ihn noch immer umkreiste wie ein vergessener Satellit. Das war eine Familie. Meine Eltern und ich … wir wohnten nur zusammen, manchmal.
    Konnte man reifer sein als seine eigenen Eltern?
    Ich dachte daran, wie die Wölfe mich angesehen hatten. Wie ich mich gefragt hatte, wie viel Zeit mir noch blieb. Wie viele Nächte ich noch mit Sam verbringen konnte, wie viele Nächte ich hier allein verschwendete.
    Ich schmeckte das Kupfer noch immer. Die Krankheit wurde nicht schwächer. Sie wütete in mir, aber noch war ich stärker. Ein paar Dinge gab es noch, die ich selbst kontrollieren konnte.
    Ich stieg aus dem Bett.
    Eine Art tödliche Ruhe erfüllte mich, während ich durch mein Zimmer schlich und Jeans, Unterwäsche, Oberteile und Socken zum Wechseln

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