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Ruht das Licht

Ruht das Licht

Titel: Ruht das Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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mir klar wurde, wie sehr ich mir wünschte, dass sie mich brauchten.
    Dann fingen sie wieder an zu heulen, genauso laut wie zuvor. Ihre Stimmen überschlugen sich vor frischer Entschlossenheit.
    Ich grinste.
    Eine vertraute Stimme hinter mir ließ mich zusammenfahren; ich konnte mich gerade noch fangen, bevor ich mit der Hand das Mückengitter herunterriss.
    »Du mit deinen superscharfen Wolfssinnen müsstest doch eine Nadel in einer Meile Entfernung fallen hören, oder?«
    Grace. Das war Grace’ Stimme.
    Als ich mich umdrehte, stand sie mit einem Rucksack über der Schulter im Türrahmen. Ihr Lächeln wirkte … schüchtern.
    »Und da schaffe ich es, mich an dich ranzuschleichen, während du – was machst du da überhaupt?«
    Ich schob das Fenster runter und drehte mich wieder zu ihr um. Blinzelte. Grace stand hier in der Tür zu Becks Zimmer. Grace, die eigentlich zu Hause in ihrem Bett hätte liegen müssen. Grace, die durch meine Gedanken spukte, wenn ich nicht träumen konnte. Irgendwie sollte mich das wohl nicht überraschen. Hatte ich nicht die ganze Zeit gewusst, dass sie hier auftauchen würde? Hatte ich nicht darauf gewartet, sie in der Tür stehen zu sehen?
    Endlich gewann ich die Kontrolle über meine Muskeln wieder und ging auf sie zu. Ich stand nun nahe genug vor ihr, um sie zu küssen, aber ich streckte nur die Hand nach dem lose baumelnden Träger ihres Rucksacks aus und fuhr mit dem Daumen über den gerippten Stoff. Dass der Rucksack hier war, beantwortete schon mal eine meiner stummen Fragen. Die Antwort auf eine weitere Frage lag in dem Wolfsgeruch, den ich immer noch in ihrem Atem wahrnahm. Und die Unmenge anderer Fragen, die ich ihr stellen wollte – Weißt du, was passiert, wenn sie es rausfinden? Ist dir klar, dass sich damit alles ändern wird? Kannst du damit leben, wie sie ab jetzt von dir denken werden? Wie sie von mir denken werden? –, hatte Grace schon mit »Ja« beantwortet, ansonsten wäre sie nicht hier gewesen. Sie hätte keinen Schritt aus ihrem Zimmer gemacht, ohne vorher alles genau zu durchdenken.
    Und das bedeutete, dass mir nur noch eine Frage übrig blieb: »Bist du sicher?«
    Grace nickte.
    Und alles änderte sich, einfach so.
    Ich zupfte sanft an ihrem Rucksackträger und seufzte. »Ach, Grace.«
    »Bist du böse?«
    Ich griff nach ihren Händen und wiegte sie vor und zurück, wie beim Tanzen, nur ohne die Füße zu bewegen. In meinem Kopf herrschte ein einziger Wirrwarr aus Rilke – Du im Voraus verlorne Geliebte, Nimmergekommene –, den Worten ihres Vaters – Ich muss mich hier wirklich sehr zusammenreißen, um nichts zu sagen, was ich später bereuen würde – und der personifizierten Sehnsucht, dem Geschöpf, um dessen Hände ich nun endlich meine schließen konnte.
    »Ich habe einfach Angst«, sagte ich.
    Aber ich spürte, dass ich lächelte. Und als sie dieses Lächeln sah, hob sich eine Wolke der Besorgnis von ihrem Gesicht, die ich zuvor gar nicht darauf bemerkt hatte, und hinterließ nichts als blauen Himmel und schließlich Sonne.
    »Hi«, sagte ich und umarmte sie. Jetzt, da ich sie im Arm hielt, vermisste ich sie sogar noch mehr als vorher.
GRACE
    Ich fühlte mich benebelt und schwerfällig, so wie man sich im Traum bewegt.
    Dies war das Leben einer anderen, eines Mädchens, das weggelaufen und zu seinem Freund gezogen war. Das war nicht die verlässliche Grace, die nie ihre Hausaufgaben zu spät abgegeben, wilde Partys gefeiert oder über den Rand gemalt hätte. Und doch war ich hier, im Körper dieses rebellischen Mädchens, und legte meine Zahnbürste sorgfältig neben Sams neue rote, als gehörte ich hierher. Als würde ich eine Weile bleiben. Meine Augen taten weh vor Müdigkeit, aber mein Gehirn surrte immer weiter, hellwach.
    Der Schmerz war jetzt dumpfer, er hatte sich etwas beruhigt. Ich wusste, dass er sich nur versteckte, beiseitegedrängt durch Sams Nähe. Trotzdem war ich froh über die Atempause.
    Im Badezimmer, auf dem Boden neben der Toilette, lag der weiße Halbmond eines abgeschnittenen Zehennagels. Seine absolute Alltäglichkeit machte es mir plötzlich in aller Endgültigkeit klar, dass ich in Sams Badezimmer bei Sam zu Hause stand und die Nacht in Sams Schlafzimmer mit Sam verbringen würde.
    Meine Eltern würden mich umbringen. Was würden sie wohl morgen früh als Erstes tun? Mich auf dem Handy anrufen? Und es dann dort klingeln hören, wo auch immer sie es versteckt hatten? Wenn sie wollten, konnten sie auch die Polizei rufen. Wie

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