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Ruht das Licht

Ruht das Licht

Titel: Ruht das Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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zusammensuchte. Wie im Auge des Sturms. Ich stopfte die Kleider in meinen Rucksack mit den Schulsachen und steckte Sams geliebten Rilke vom Nachttisch dazu. Ich strich über die Kante meiner Kommode, nahm mein Kissen und blieb am Fenster stehen, an dem ich vor nicht allzu langer Zeit ein Blickduell mit einer Wölfin gewonnen hatte. Mein Herz dröhnte in meiner Brust, ich erwartete, dass jeden Moment meine Mutter oder mein Vater die Tür öffnete und mich mitten im Aufbruch ertappte. Irgendwer musste doch spüren, wie ernst das war, was ich hier vorhatte.
    Doch nichts passierte. Auf dem Weg den Flur hinunter holte ich meine Zahnbürste und meine Haarbürste aus dem Badezimmer und immer noch blieb alles still. An der Haustür blieb ich stehen, meine Schuhe in der Hand, und horchte.
    Nichts.
    Tat ich das gerade wirklich?
    »Macht’s gut«, flüsterte ich. Meine Hände zitterten.
    Die Tür schleifte raschelnd über die Fußmatte, als ich sie hinter mir zuzog.
    Ich hatte keine Ahnung, wann ich wiederkommen würde.

KAPITEL 41
SAM
    Ohne Grace wurde ich zum Nachttier. Ich belauerte Ameisen in der Küche; im schwachen Licht der Deckenlampen wartete ich darauf, sie mit einem Glas und einem Stück Papier wieder nach draußen befördern zu können. Ich nahm Pauls staubige Gitarre von ihrem Platz am Kamin und stimmte sie. Zuerst normal, dann runter auf D, dann auf DADGAD und dann wieder auf normal. Im Keller durchstöberte ich Becks Sachbücher, bis ich eins über Steuern fand, eins darüber, wie man Freunde gewann und beliebt und einflussreich wurde, und eins über Meditation. Ich legte sie auf den Stapel der Bücher, die ich niemals lesen würde. Oben im Badezimmer saß ich auf dem Boden und suchte nach der perfekten Art, mir die Zehennägel zu schneiden. Wenn ich eine Hand unter den Fuß hielt, landete nur die Hälfte der abgeschnittenen Nägel darin, aber wenn ich sie einfach so durch die Gegend fliegen ließ, konnte ich auf den weißen Fliesen auch nur die Hälfte davon wiederfinden. Ein aussichtsloser Kampf also, bei dem die Verluste so oder so fünfzig Prozent betrugen.
    Mittendrin hörte ich, wie die Wölfe anfingen zu heulen; ihre Stimmen drangen laut durch Becks Schlafzimmerfenster über den Flur. Ihr Lied klang jeden Abend anders, je nachdem, wie es mir gerade ging. Manchmal war es ein volltönender, herrlicher Gesang, wie von einem himmlischen Chor in dicken, nach Wald duftenden Pelzen. Oder eine unheimliche, einsame Sinfonie, bei der sich die Noten übereinanderschichteten, um dann hinaus in die Nacht zu wehen. Dann wieder schienen ihre freudig erhobenen Stimmen den Mond zu sich herunterzulocken.
    Heute waren sie ein kakofoner Haufen, heulten jeder für sich um Aufmerksamkeit, ihr Gesang durchsetzt mit Bellen. Ruhelos. Ein unharmonisches, uneiniges Rudel. Normalerweise heulten sie nur so, wenn entweder Beck oder Paul gerade ein Mensch war, aber in dieser Nacht waren beide Anführer da. Der Einzige, der fehlte, war ich.
    Ich stand auf, ging hinüber in Becks Zimmer, die kalten Bodendielen unter den Sohlen meiner Menschenfüße, und stellte mich ans Fenster. Nach einem kurzen Moment des Zögerns schob ich den Riegel hoch und öffnete es. Die eisige Nachtluft strömte herein, aber sie konnte mir nichts anhaben. Ich war einfach ein Mensch. Einfach ich.
    Auch das Wolfsgeheul drang herein und umfing mich.
    Vermisst ihr mich?
    Das unorganisierte Jaulen ging weiter, mehr Protest als Gesang.
    Ihr fehlt mir.
    Und da stellte ich, vage überrascht, fest, dass das alles war. Ich vermisste sie. Den Rest vermisste ich nicht. Das hier – dieser Mensch, der sich auf die Fensterbank stützte, voller menschlicher Erinnerungen, Ängste und Hoffnungen, dieser Mensch, der als solcher alt werden würde –, das war ich und das wollte ich nicht verlieren. Es fehlte mir nicht, inmitten des Rudels zu stehen und zu heulen. Das war kein Vergleich zu dem Gefühl meiner Finger auf den Saiten einer Gitarre. Ihr klagender Gesang würde mich nie so bewegen wie der Klang meiner eigenen Stimme, die Grace’ Namen sagte.
    »Hier sind Leute, die schlafen wollen!«, rief ich hinaus in die Dunkelheit, die meine Lüge schluckte.
    Es wurde ruhig, die Nacht erstarrte zu Schweigen. Keine Vogelrufe oder raschelnden Blätter in dieser tiefschwarzen Stille. Nur das ferne Zischen von Reifen auf einer Straße, weit weg.
    »Ahuuuuuuuuuuuuuu!«, heulte ich aus dem Fenster und kam mir ein bisschen albern vor, mein Rudel so zu provozieren.
    Pause. Lange genug, dass

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