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Ruht das Licht

Ruht das Licht

Titel: Ruht das Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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würde nie wieder Hände haben.
    Die nächsten Sätze sprach ich nicht mehr laut aus. Nie wieder, Victor. Ich laufe nie mehr weg. Es tut mir leid, dass das hier nötig war, damit ich es einsehe.
    Aus dem Augenwinkel sah ich etwas, eine Bewegung in der Dunkelheit.
    Wölfe.
    Als Mensch hatte ich noch nie so viele von ihnen gesehen, aber jetzt schien es in den Schatten zwischen den Bäumen regelrecht von ihnen zu wimmeln. Zehn? Ein Dutzend? Es waren so viele, dass ich fast das Gefühl hatte, mir ihre diffusen Silhouetten nur einzubilden.
    Grace sah sie auch. »Sam«, flüsterte sie. »Beck.«
    »Ich weiß«, antwortete er.
    Wir standen alle da wie erstarrt, warteten ab, wie lange die Wölfe blieben und ob sie näher kommen würden. Ich kauerte neben Victor und mir kam der Gedanke, dass ihre glitzernden Augen für jeden von uns etwas anderes bedeuteten. Sams Vergangenheit. Meine Gegenwart. Grace’ Zukunft.
    »Ob sie wegen Victor hier sind?«, fragte Sam leise.
    Niemand antwortete.
    In diesem Moment wurde mir etwas klar: Ich war der Einzige, der Victor als den betrauerte, der er gewesen war.
    Die Wölfe blieben, wo sie waren, Geister in der heraufziehenden Nacht. Schließlich drehte Sam sich zu mir um und fragte: »Bist du so weit?«
    Ich glaubte nicht, dass man überhaupt jemals so weit sein konnte, trotzdem bedeckte ich Victors Gesicht wieder mit dem Laken. Gemeinsam hoben Sam und ich ihn hoch – er schien fast gar nichts zu wiegen – und ließen ihn vorsichtig in das Grab sinken. Grace und das Rudel sahen zu.
    Der Wald war vollkommen still.
    Schließlich stand Grace schwankend auf und presste eine Hand auf ihren Magen.
    Sam zuckte zusammen, als einer der Wölfe anfing zu heulen. Es war ein tiefer, trauriger Gesang und klang viel menschlicher, als ich es für möglich gehalten hätte.
    Einer nach dem anderen fiel der Rest der Wölfe mit ein; der Abend wurde immer dunkler und ihr Lied schwoll an, bis es jede Senke, jeden Winkel des Waldes erfüllte. Eine Wolfserinnerung, bislang tief vergraben, stieg in mir auf, wie ich den Kopf zurückwarf und den Frühling herbeiheulte.
    Beim Klang ihres einsamen Gesangs brannte sich mir der Anblick von Victors kalter Leiche in diesem Grab ins Gedächtnis, und als ich das Gesicht in den Händen vergrub, merkte ich, dass meine Wangen nass waren.
    Als ich die Hände wieder sinken ließ, sah ich, wie Sam zu Grace hinüberging, die immer noch schwankte, und die Arme um sie schlang.
    Er umarmte sie so fest, als wollte er die Tatsache leugnen, dass wir alle früher oder später loslassen mussten.

KAPITEL 45
SAM
    Als wir wieder ins Haus gingen, konnte ich nicht sagen, wer schlechter aussah – Cole, so schmerzerfüllt, oder Grace, deren Augen riesig wirkten in ihrem bleichen, bleichen Gesicht. Es tat weh, sie beide so zu sehen.
    Cole ließ sich auf einen der Stühle im Esszimmer fallen. Ich führte Grace zum Sofa und setzte mich neben sie; ich wollte das Radio einschalten, mit ihr reden, irgendwas tun, aber ich hatte keine Kraft mehr. Also saßen wir schweigend da, jeder in seine eigenen Gedanken versunken.
    Eine Stunde später hörten wir, wie die Hintertür aufging, und zuckten zusammen. Selbst als wir sahen, dass es Isabel war, dick eingepackt in ihren weißen, fellbesetzten Mantel und die gewohnten Stiefel, entspannten wir uns nur ein wenig. Ihr Blick huschte von Cole, der, den Kopf in den Armen vergraben, am Tisch saß, zu mir und dann zu Grace, die an meine Brust gelehnt lag.
    »Dein Vater war hier«, sagte ich etwas dümmlich, weil mir nichts anderes einfiel.
    »Ich weiß. Ich hab’s gesehen, aber da war es schon zu spät. Ich wusste nicht, dass er ihn hierherbringen würde.« Isabel presste die Arme steif an ihren Körper. »Ihr hättet hören sollen, wie er sich aufgespielt hat, als er zurückkam. Aber ich konnte erst nach dem Abendessen abhauen. Hab ihm gesagt, ich müsste noch mal in die Bibliothek – wenn es eine Sache gibt, über die dieser Mann nicht Bescheid weiß, dann sind das die Öffnungszeiten der Stadtbücherei.« Sie hielt inne und drehte sich halb zu Coles noch immer regloser Gestalt um, dann wieder zu mir. »Wer war es? Der Wolf, meine ich.«
    Ich warf einen kurzen Blick in Richtung Esstisch, den man von unserem Platz auf dem Sofa gerade eben sah. Ich wusste, dass er uns hören konnte. »Es war Victor. Coles Freund.«
    Isabel wandte ihre Aufmerksamkeit Cole zu. »Ich wusste nicht, dass er welche hat …« Sie schien zu merken, wie gemein das klang, denn sie

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