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Ruht das Licht

Ruht das Licht

Titel: Ruht das Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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uns gesehen hatte. Es verlief nicht ohne Anstrengung, aber es wirkte vollkommen natürlich, wie bei einer Schlange, die sich aus ihrer Haut schälte, oder einer Zikade, die aus ihrem brüchigen alten Panzer kroch. Kein Würgen. Keine Schmerzen. Nichts von der Qual jeder anderen Verwandlung, die ich bis jetzt gesehen oder selbst erlebt hatte.
    Der Wolf schüttelte sich, sträubte das Fell und sah mich kläglich aus Victors braunen Augen an. Ich bewegte mich langsam weg von der Tür, damit er leicht herauskam, aber Cole hielt mich zurück. Seine Stimme klang seltsam. »Das kannst du dir sparen.«
    Wie aufs Stichwort ließ sich der Wolf schwerfällig auf die Hinterbeine plumpsen und seine Ohren zitterten. Er riss das Maul auf, fiepte und dann fing sein ganzer Körper heftig an zu zittern.
    Cole und ich wandten im selben Moment den Blick ab, genau als Victor vernehmlich ächzte und sich wieder in einen Menschen verwandelte. Einfach so. Hin und her. Das ging über meinen Verstand. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er die Decke hochzog. Eher der Wärme wegen als aus Scham, vermutete ich.
    »Verdammt«, sagte Victor leise.
    Ich sah Cole an. Sein Gesicht wirkte vollkommen ausdruckslos, was, wie mir langsam klar wurde, immer so war, wenn es um wirklich wichtige Dinge ging.
    »Victor?«, sprach ich ihn an. »Ich bin Sam. Erinnerst du dich an mich?«
    Jetzt hockte er auf dem Boden und wiegte sich auf den Fersen vor und zurück, als wüsste er nicht, ob er sitzen oder knien sollte. Das und die Art, wie er den Mund verzogen hatte, verrieten mir, dass er sehr wohl Schmerzen hatte. »Ich weiß nicht«, antwortete er. »Ich glaube nicht. Vielleicht.« Er warf Cole einen Blick zu, unter dem Cole fast unmerklich zusammenzuckte.
    »Ich bin Becks Sohn«, erklärte ich. Das war nah genug an der Wahrheit. »Ich helfe dir, wenn ich kann.«
COLE
    Sam kam wesentlich besser mit Victor zurecht als ich. Ich hatte nur an der Tür gestanden, ihn angestarrt und darauf gewartet, ihn rauszulassen, falls er es irgendwann schaffte, ein Wolf zu bleiben.
    »Das war … Wie kannst du dich so schnell verwandeln?«, wollte Sam von ihm wissen.
    Victor zog eine Grimasse, sein Blick wanderte von Sam zu mir und wieder zurück zu Sam. Ich merkte, wie viel Mühe es ihn kostete, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. »Vom Wolf zu mir ist es schlimmer. Von mir zum Wolf ist leicht. Zu leicht, Alter. Ich verwandele mich immer wieder zurück, obwohl es so warm ist. Davon hängt’s doch ab, oder?«
    »Heute ist der wärmste Tag, den wir bis jetzt hatten«, erwiderte Sam. »So warm soll es den Rest der Woche nicht mehr werden.«
    »Oh Mann«, stöhnte Victor. »So hatte ich mir das aber nicht vorgestellt.«
    Sam sah mich an, als könnte ich irgendwas dafür. Er ging an mir vorbei, um sich einen Klappstuhl zu nehmen, und setzte sich dann Victor gegenüber. Auf einmal erinnerte er mich an Beck. Alles an ihm drückte Interesse aus und Besorgnis und Ernsthaftigkeit, von der Krümmung seiner Schultern bis zu den zusammengezogenen Augenbrauen über den schweren Lidern. Ich konnte mich nicht erinnern, ob Sam mich bei unserer ersten Begegnung auch so angesehen hatte. Ich konnte mich noch nicht mal erinnern, was ich damals zu ihm gesagt hatte.
    »Ist das das erste Mal, dass du dich zurückverwandelst?«, fragte er Victor.
    Victor nickte. »Zumindest das erste, an das ich mich erinnern kann.« Dann starrte er mich an und ich war mir meiner menschlichen Gestalt plötzlich sehr bewusst – wie ich einfach nur dastand, ohne Schmerzen, nicht als Wolf, einfach nur ich.
    Sam fragte weiter, als wäre das Ganze ein Sonntagsspaziergang, vollkommen normal: »Hast du Hunger?«
    »Ich –«, fing Victor an. »Warte. Ich bin am V–«
    Und schon war er wieder ein Wolf.
    Sams schockierter Gesichtsausdruck und die Art, wie er den Finger an seine Augenbraue presste, sagten mir, dass das alles nicht normal war, und ich fühlte mich schon ein bisschen weniger schlecht dafür, dass mir das Ganze so freakig vorkam. Victor der Wolf stand da und beäugte abwechselnd den Ausgang, Sam und mich, die Ohren gespitzt, der ganze Körper angespannt.
    Ich starrte Victor an und dachte daran, wie wir nach meiner Begegnung mit Beck im Hotelzimmer gesessen hatten und wie ich gesagt hatte: Hey, Vic, hast du Bock auf ein bisschen Action?
    »Cole?«, fragte Sam, ohne den Blick von ihm zu wenden. »Wie oft? Wie lange bist du schon hier?«
    Ich zuckte mit den Schultern und versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.

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