Rumgurken: Reisen ohne Plan, aber mit Ziel (German Edition)
mir selbst zuproste, ich verdammter Glückspilz. Auf dem abgewetzten Tresen der Kneipe steht ein großes Glas Soleier. Eines davon lasse ich mir herausfischen, als Mundvorrat für den beschwingten Heimweg.
Für den letzten Tag habe ich eine Art runden Tisch in der Stadt organisiert. Ich möchte mich mit vier Kapazitäten (für was auch immer) im Bierpinsel treffen, ein 46 Meter hohes Gebäude in futuristisch anmutender Poparchitektur der 1970er Jahre in Steglitz.
Ich habe Sascha Lobo eingeladen, einen rundlichen Mann mit ulkigen, roten Haaren, eine Art Hühnerfrisur, die, wenn es regnet, hängt wie ein Erdbeerstrauch. Er weiß zu allem irgendetwas und ist gebürtiger Westberliner (geboren 1975). Des weiteren erwarte ich Christiane Rösinger, sie war Mitglied der formidablen Lassie Singers, ist Wirtin der Flittchenbar in Kreuzberg, und ich war einmal mit ihr verheiratet. Dritter Gast ist Max Müller, Kopf und Sänger der Band Mutter, davor war er kurzfristig bei Die Ärzte und hat Bela B tätowiert, einen Kürbis und den Namen ihrer Jugendgang: VOLLSTARK. Rösinger und Müller sind Zuzugsberliner, sie kamen mit der zweiten großen Welle Anfang der achtziger Jahre in die Halbstadt und entwickelten im kreativen Vakuum eine endlich einmal die Mauer ignorierende Sprache der Relevanz, Rösingers war die der resignativen Melancholie («Liebe wird oft überbewertet»), Müller kam mit Krach, quälender Langsamkeit und Schmerz («Alt und schwul»). Als Letzten habe ich zu mir in den Bierpinsel Jochen Schmidt gebeten, der engagierte Journalist, Proustianer und Autor («Müller haut uns raus»), 1970 in Ostberlin geboren, er schreibt gerade ein Buch über Rumänien, endlich mal keins über Berlin, meinte aber in einer Mail, als ich das Treffen vorschlug, säuerlich: «Charlottenburg, das ist aber für mich eine dermaßen deprimierende Gegend, dieses ganze Westberlin, das ist für mich der graue Osten ohne die Erinnerung an früher.» So was gefällt mir natürlich, auch wenn er den Stadtteil verwechselt, der Bierpinsel ist natürlich in Steglitz.
Ich schätze alle vier sehr und stelle mir den Abend als eine Art vorweggenommene Geburtstagsfeier vor. Als Geschenke bringen sie sich selbst mit, vier Gäste sind auch die ideale Runde, jeder kann sich noch auf jeden konzentrieren, und alle sind spannend genug, dass das Interesse aneinander so schnell nicht ausglühen wird, hier in diesem historischen Bauwerk, dessen wunderbare Ästhetik durchaus ostberlinkompatibel wäre. Wir sind um 19 Uhr verabredet, eine gute Zeit, nicht zu früh, nicht zu spät, nur ich komme etwas früher, um meine Gäste zu empfangen, ich suche einen schönen Tisch, mit schöner Aussicht. Eine müde Spätsommersonne deutet gerade an, sich vom Acker machen zu wollen. Als um halb acht noch niemand da ist, denke ich mir, ja, so sind sie, Künstler brauchen Zeit. Von Jochen weiß ich, dass er Fußball spielt, vielleicht ist er noch beim Training, von Max, dass er seine neue Platte abmischt und damit viel zu tun hat, Sascha kommt sowieso immer zu spät. Ich bestelle mein drittes Bier, eine grüne Weiße, mit Strohhalm, am Tresen hängt eine fettleibige 57-jährige Hausfrau, Typ Regalservicekraft, mit Hertha-BSC-Tattoo am Oberarm und schmalzigen Haaren. Sie hält dem Schankburschen einen Vortrag, der, wie ich gestern bei Ulrike gelernt habe, genau dem Berlin-Erzählschema entspricht: viel und schnell brabbeln, nicht witzig sein. Ich muss trotzdem lachen und staunen: «Jestan haste misch ja jesehn, mit der orangschen Tasche, weeßte, wat da drinne war in die orangsche Tasche, nee, kannste janich wissen, wat da drinne war, ick willda sagen, wat da drinne war, Feffanüsse, Dominosteine undn Appel, hat dit lecka jeschmeckt, dit jloobste janich, und nachher ess ick ne Stulle, die lass ick schon atmen, die hab ick vorher schon ausjepackt.»
Mir ist nicht nur ein Rätsel, wie man im Sommer Pfeffernüsse essen kann, sondern auch, warum sie in ihrer eigenen Wohnung eine Stulle einpackt und wieder auspackt (zum Atmen), vielleicht entwickelt es dadurch den typischen Geschmack eines sogenannten Hasenbrots, den ja viele, ich übrigens auch, so gerne haben, übriggebliebener Proviant, das am Rand schon etwas trockene Brot, schon mit der Margarine und dem schwitzenden Käse und der welligen Salami sich verbindend, alles diffundiert in alles, und in Gedanken dem Geschmack von Hasenbrot nachhängend, sehe ich, dass es bereits acht ist, und vor mir vier leere Bierpokale stehen,
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