Rumgurken: Reisen ohne Plan, aber mit Ziel (German Edition)
seine Freundin schrieb, welche sich dann kurz nach Veröffentlichung umgebracht hat, Seress legte 1968 ebenfalls Hand an sich, indem er zwar einen Sprung aus dem Fenster überlebte, aber sich dann im Krankenhaus mit einem Draht strangulierte. Dieses ergreifende, hoffnungslose Lied gilt als Selbstmordbeschleuniger, man bringt viele Tode mit ihm in Verbindung, zum Beispiel jenen von Billy MacKenzie, dem Sänger der Associates, der es sang und sich 1997 das Leben in einer Hundehütte nahm, aber auch von Billie Holiday, die, um alles betrogen und verarmt, mit 44 Jahren schwer herz- und leberkrank in ein New Yorker Krankenhaus eingeliefert wurde, wo sie unter entwürdigenden Umständen an Leberzirrhose verstarb. Polizisten standen um das Krankenbett, um sie zu verhaften, wenn sie sich erholt hätte. Sie entzog sich der Haft durch Tod. Aber das sind alles nur Zufälle, und der Ruf des Liedes fußt vermutlich auf der Tatsache, dass sich zum Zeitpunkt des Todes Rezső Seress’ in Ungarn gerne mal selbstentleibt wurde. Ich wollte also meine Gloomy-Sunday-Singles irgendwo spielen, bis es den Kneipenbesuchern gereicht hätte und sie mich verprügelt hätten, das war mein Ziel, das hatte ich vor, denn ich bin ein Nehmer.
Ich plante durch vom rücksichtslosen Dünge- und Genmonopolisten Monsanto verwüstete Monokulturen zu fahren, die große Flächen Ohios und die angrenzenden Bundestaaten bedecken, traurige, sterilisierte Maisfelder, Hektarmeere von Schweinefutter, gottspottende, vergewaltigte Erde. Ich wollte ihren Flaggenfetisch bewundern, der etwa ein Drittel des Himmels bedeckt. Ich komme in diesem Land an, wie Millionen vor mir, für das ich nur Körper, Kleider, ein Name und ein Alter bin, das ist meine Identität, mehr nicht, nicht einmal meine Nationalität ist von Belang, denn es gibt ja nur zwei, wir und die, USA und der Rest, ist ja dann auch egal, woher ich komme, da kann ich auch aus Ungarn sein, ich muss hier nichts beweisen, indem ich differenziere, Missionieren sowieso zwecklos, wahrscheinlich würde ich von meinem hohen Ross der Ressentiments herunterkommen, würde mich ihre schier grenzenlose Toleranz einfach entwaffnen, sie würden mich vermutlich nicht einmal verprügeln, in dieser Kneipe voller Kreationisten da, in der ich meine Selbstmörderlieder auflege, sondern lächelnd machen lassen, na, soll der schwule Spinner seinen Spaß haben und uns zu provozieren versuchen, irgendwann ist er auch wieder weg, oder er geht in uns auf.
Es gibt einen Direktflug von Wien nach Cleveland. Die Hauptstadt Ohios, Columbus, wollte ich auslassen, zu deutschtümelnd, was sollte ich dort, Sauerkraut kämmen? Der Flug verlief problemlos, am Anfang betete ich nur, dass ich nicht neben der lauten Nervensäge, einem circa siebzigjährigen Mann, zu sitzen gezwungen sein würde, er zappelt und gockelt bereits am Flughafen morgens um acht herum wie besoffen, plusterte sich auf, behängt mit Katzengold, redet mit jedem, und zwar sehr laut, dann sitzt sein Freund oder Kollege vor mir, und er kommt von hinten immer nach vorne, lehnt sich an dessen Sitz, streckt mir seinen Po ins Gesicht, ich sitze am Gang, er geht immer hin und her und kaut dabei nervös Kaugummi. Ich sage zu meiner Sitznachbarin, einer Georgierin, die an der Ekonomicka Universita in Bratislava studiert und jetzt zu ihrem Freund nach Ohio fliegt, dass ich den Zappler unmöglich finde, Typ verhaltenskreativer Kompensationswirrkopf, ich halte den nicht aus, schwer einzuschätzen, der benimmt sich wie ein ADHS-Kind. Sie antwortet, das sei ein ganz berühmter georgischer Balletttanznestor, und dann sehe ich, dass er, es gibt gleich Essen, sich sein Kaugummi hinter das Ohrläppchen geklebt hat. Das stimmt mich ganz milde, meine Wut ist augenblicklich verflogen. Komischer Reflex, was beruhigt mich hier? Relativiert sich seine Unberechenbarkeit durch sympathischen Irrsinn? Vermutlich. Tanzopa muss wohl so viel zappeln und gehen, um die Gelenke elastisch zu halten, «wie Tiger im Zoo» sagt meine Nachbarin, Gwindi heißt sie, ihr Name bedeutet auf Deutsch «Wir wollen dich», sie liest die Bibel und bekreuzigt sich andauernd und hat unglaublich dicke Beine bei einem ansonsten normalen Körper.
Man kommt kommod an, um 17 Uhr, Taxi brettert über den schnurgeraden George W. Bush Highway (erstaunlich, dass sie so eine wichtige Straße nach dem Abgemeldeten benennen) in das Zentrum Clevelands, zum Hotel Zp, Bethlehem Street 11, rätselhaft, warum das Hotel so heißt. Aber
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