Rumgurken: Reisen ohne Plan, aber mit Ziel (German Edition)
Immer diese Aversion, wie die Katze vor dem Wasser, schiere Angst, aber alle meine Freunde (eineinhalb) meinten, ich müsse gerade deshalb dorthin, um mich mit der Angst (Angst vor dem Hass eigentlich) zu konfrontieren, dann verschwinde alles, es sei dort alles gar nicht so schlimm. Und nun saß ich tatsächlich in einem Flugzeug («Flieger» – Niki Lauda) nach Ohio, ich fühlte mich sogar wohl, gut, entspannt, gespannt und gerüstet.
Nach langer Recherche kam eben Ohio heraus, als der Bundesstaat, der meinen Bedürfnissen am ehesten entsprechen würde. Nicht Ostküste, nicht Westküste, nicht Los Angeles, New York, auch nicht Neu-England oder Chicago, das alles macht es einem möglicherweise zu leicht, aber auch nicht der Bible Belt, das Biotop des Schreckens und der Finsternis, da würde ich womöglich zugrunde gehen wie eine Primel in der Nacht. Diese Staaten da in der Mitte, oben, mit denen kann man arbeiten, noch dazu ein See, Wasser ist ja immer ganz hilfreich, tröstlich, Cleveland, Partnerstadt Bratislavas, die Stadt mit der Burg, die wie ein umgedrehter Tisch aussieht, aus Cleveland kommen Pere Ubu, meine Lieblingspostpunkband, David Thomas, ihr einziges konstantes Mitglied und Sänger, hat mir mal ein Autogramm auf den Hals gegeben, nein, kein Autogramm im eigentlichen Sinn, er malte einen Bus, der aussah wie ein Dinosaurier, jemand hat ihn mal als James Stewart, eingesperrt in einer Oboe, bezeichnet. Ich liebe diesen dicken Mann, der mit seiner Mutter und einem Amboss auf Tour zu gehen pflegt. Vielleicht könnte ich Thomas sogar treffen? Cleveland, ja, das ist es, Bilder tun sich auf, der schreckliche Jim-Jarmusch-Film «Stranger than Paradise» (danach wurden seine Filme noch viel schrecklicher), der spielt in Cleveland, der Eriesee ist zugefroren, verlockende Bilder, Industrieruinen, der schneidende Wind, durch die Szenerie stolpert eine orientierungslose Ungarin, diese Ungarin wollte ich sein, auch wenn jetzt leider im November der See wohl kaum zugefroren sein wird, aber dafür könnte ich noch in ihm schwimmen. Ich wollte zum geheimnisvollen Blue Hole in Castalia, einer seltsamen Quelle, Tiefe unbekannt, keine Lebewesen in ihr, Fische sterben, kein Sauerstoff, totale Leere, und auch wenn sie dieses unheimliche Nichts inzwischen geschlossen haben, es gibt keinen Zugang mehr, muss es doch möglich sein, da irgendwie hinzukommen, Taxi zum toten blauen Loch, vielleicht da auch mal rein? Ich musste natürlich in die Antistadt Oberlin, nicht nur aus onomatopoetischen Gründen, Wurzel der Anti-Sklaven-Bewegung, aber auch Heimat der Anti-Kneipen-Liga.
Außerdem hatte ich vor, einen Ausflug nach Ramses zu machen, jedermann bekannt aus dem anrührendsten Roman der Weltgeschichte, Franz Kafkas «Amerika», das einzige Buch, das ich nicht nur gelesen, sondern gleichsam inhaliert habe, und ich liebe den Film von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet, die das Buch 1984 unter dem Titel «Klassenverhältnisse» verfilmten, mein alter Freund Harun Farocki spielt darin den Delamarche, ich kann Zeile um Zeile daraus mit dieser merkwürdigen kubistischen Intonation nachsprechen, und mache es auch regelmäßig, zumindest wenn ich Harun treffe: «Ich heiße Karl Roßmann und bin ein Deutscher. Bitte, sagen Sie mir, da wir doch ein gemeinsames Zimmer haben, auch Ihren Namen und Ihre Nationalität. Ich erkläre nur noch gleich, dass ich keinen Anspruch auf ein Bett habe, da ich so spät gekommen bin und überhaupt nicht die Absicht habe, zu schlafen. Außerdem müssen Sie sich nicht an meinem schönen Kleid stoßen, ich bin völlig arm und ohne Aussicht.» Worauf Harun streng zu geben pflegt: «Der da heißt Robinson und ist Irländer, ich heiße Delamarche, bin Franzose und bitte jetzt um Ruhe.» Später brechen sie dann nach Ramses auf, kommen aber nie dort an, so wenig wie in Butterford («Wir werden schon in Butterford Stellen erzwingen»), und das ist doch das Schöne, im Film, im Buch, und auch in unserer Kohlenstoffwelt, dass man die Erwartung an einen Ort auch einmal in der Vorstellung kompostieren lassen kann, man auch aus dem Nichts kokette Dinge davontragen kann, nun wollte ich aber nicht für mich, sondern stellvertretend für Roßmann, Robinson und Delamarche nach Ramses.
Ich wollte in irgendeiner Redneckkneipe fragen, ob ich ein wenig auflegen dürfe, vielleicht meine kleine Sammlung des unheimlichen, ungarischen Liedes Szomorú Vasárnap, besser bekannt als Gloomy Sunday von Rezső Seress, der es für
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