Rumgurken: Reisen ohne Plan, aber mit Ziel (German Edition)
Westen», ich sinke in einen ereignislosen Schlaf, in dem ab und zu eine Wachtel auftaucht und «Are we rudy fer the bake shah?» fragt, wie Valdja Gochktch in David Lynchs «On the Air».
Am nächsten Abend habe ich einen kleinen Job. Ich lege meine mitgebrachten Singles, ohne die ich nie verreise, in der Casa de boa gente (Haus der guten Menschen) auf, einer Schwulenbar. Ich habe diesmal elysische Schlager aus der Zeit meiner Geburt bei mir, eine ganz besondere Ära lilienweißer, weiblicher Unschuld und schmerzhafter Reinheit inmitten eines unzerstörbaren und unbesiegbaren blonden, mit Optimismus gepanzerten Amerikas.
Patty Duke, «Don’t Just Stand There»
Connie Francis, «Where the Boys Are»
Linda Scott, «I’ve Told Every Little Star»
Shelley Fabares, «Johnny Angel»
Skeeter Davis, «The End of the World»
Debbie Reynolds, «Tammy»
Connie Stevens, «Sixteen Reasons»
Marcie Blane, «Bobby’s Girl»
Doris Day, «Move Over, Darling»
Brenda Lee, «I’m Sorry»
Lesley Gore, «You Don’t Own Me»
Ich liebe dieses Zeug so sehr, ich könnte schreien vor Glück. Es gibt keine schönere Musik auf der Welt, ein Sehnsuchtsort, an dem die Jugend mit Milch und prallen, buttertriefenden Maiskolben, Kartoffelbrei, dicken Scheiben Schweinebauch und blutigen Steaks gemästet wurde, kräftige weiße Zähne, fest verankert in riesigen Kiefern, spitze Brüste, ebenfalls fest verankert in steinharten BHs, an denen man sich ein Auge ausstechen konnte, prüder Druck im Unterbauch, eine Zeit, in der ich vermutlich noch viel mehr zu leiden gehabt hätte als im Moment. Man glaubt nicht, wie schnell die Leute weich wie Paraffin werden, wenn man das mal auflegt, hemmungslos zu heulen beginnen, tanzen, schmusen, einfach glücklich werden und sich schlicht und ergreifend schimmlig freuen.
Die Bude ist brechend voll, allerdings kaum Homos, das Haus der guten Menschen wird offenbar auch von Nichtschwulen besucht, keine Dogmen und Ressentiments hier, viele kleine dicke Mädchen, augenscheinlich sogenannte Fruchtfliegen, Mädchen, die sich in Gesellschaft Schwuler wohler fühlen.
Organisiert hat das für mich Paulo, der Mosambiksöldner. Er ist in etwa mein Jahrgang und versteht die Musik. Ich lernte ihn vor Jahren kennen, als er das erste einer Reihe von Konzerten meiner kleinen Band Mäuse hier ausrichtete, das erste ausgerechnet auf dem Dach einer Parkgarage namens Maus Habitos (Schlechte Angewohnheiten). Als Gage gab’s damals einen großen Sack Maracujas.
Plötzlich kommt ein Rudel beschwipster Vergnügungssüchtiger herein, Jugendliche zwanzig plus. Die Musik ist aus einer Zeit, als selbst ihre Eltern vermutlich noch nicht einmal in der Lebensplanung ihrer Eltern waren. Sie tanzen wild, machen das Yes-we-can-Zeichen (mit dem Zeigefinger in die Luft stechen), einer kommt zu mir, meint auf Englisch, er liebe Musik aus den Sechzigern, «Gimme Some Lovin’», ob ich das kenne, Spencer Davis Group, das sei sieben Wochen auf Platz 1 in Hollywood gewesen, dann macht er die Bro-Fist-Geste, auch Fistbump genannt, das heißt, er reckt mir seine Faust entgegen, und ich soll mit meiner dagegen fäusteln. Ich lasse mich auf ihn ein, weil er vom Akzent erkennbar kein mühsamer Engländer, schweinsgesichtiger Australier oder argloser Amerikaner ist, sondern Ire, und ich dadurch milde gestimmt bin. Ich frage nach seinem Namen, er heißt (natürlich) Feargus, und ich sage: «Feargus, lieber junger Freund, erstens bezweifle ich, dass so eine Hitparade in Hollywood existiert, zweitens ist deine Liebe zur Musik der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts von meiner vermutlich durch einen riesigen Kosmos getrennt, breit wie der Kofferraum von Montserrat Caballé, den detailliert zu erklären ich aber nicht gewillt bin, und drittens, wenn man schon so etwas Ridiküles wie die Bro Fist (deutsch: Ghettofaust) oder den Highfive, auch selbst so etwas Unhygienisches wie Händeschütteln mit Anstand abzuwickeln beabsichtigt, dann muss man das ‹falsch› machen, das heißt, man muss sich verfehlen, erst dann wird’s (ich hasse das nun folgende Wort, aber ich musste es anbringen, er hätte mich nicht verstanden) COOL.»
Feargus geht einen Moment in sich, schiebt die Puzzleteile zusammen, die ich ihm hinüberreiche, begreift aber sofort, lobt weiter meine Musik, stiebt davon und holt und schiebt im Laufe des Abends einen nach dem anderen aus seiner Gruppe zu mir, allesamt Architekturstudenten aus Edinburgh, er flüstert jedem etwas ins Ohr,
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