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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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der hat uns in der Hochzeitsnacht früh halb vier muntergeklingelt. Ruft an und fragt, ob wir geschlafen hätten. Er war schon immer ein bißchen verrückt, dein Onkel Reinhardt. Na, heute kommt ja niemand mehr auf solche Einfälle, nicht?«
    Nein, sagte Irene, heute käme wohl kaum noch jemand auf solche Einfälle. Vom Fenster aus sah sie den Wagen auf der Ausfahrt stehen. Aus dem Chassis tropfte noch Wasser, aber die Karosserie war schon wieder trocken, und der Lack glänzte in der Sonne.
    »Jaaa«, sagte Hollenkamp fröhlich, »er war wirklich ein verrücktes Haus, dein Onkel Reinhardt.«
    Gegen acht Uhr fuhren sie los. Es war schon recht warm, obwohl die Sonne noch niedrig stand, die Nacht hatte die Luft nicht kühlen können. Hollenkamp saß neben Irene auf dem Vordersitz, er fühlte sich frisch und war in prächtiger Stimmung, das Reißen in der Schulter hatte sich bis jetzt noch nicht gemeldet. Toi toi toi, dachte er. Er beobachtete den Verkehr auf der Straße, sie würden gut vorankommen. Eine Weile fuhren sie hinter einem großen Packard mit amerikanischem Kennzeichen her, verloren ihn aber dann aus den Augen. Wenn der Betrieb so bleibt, dachte Hollenkamp, können wir es in gut zwei Stunden schaffen.
    Eigentlich wäre er jetzt selbst gern ein Stück gefahren. Irene legte sich mit einem Jeep an, ließ den Wagen ein paarmal zurückfallen, weil die Sicht schlecht war und die Luft staubig, sie fuhr wirklich nicht übel, setzte nun wieder zum Überholen an, aber es reichte nicht. Sie wird ihn schon schnappen, dachte Hollenkamp, dennoch: ich möchte jetzt wirklich sehr gern ein bißchen fahren. Aber er sagte nichts.
    Er sah ihr zu, wie sie angespannt die Straße beobachtete, jetzt hatte sie den Jeep abgehängt, mußte aber gleich darauf in der Kurve herunterschalten. Sie hat Gefühl für den Wagen, dachte Hollenkamp anerkennend. Dann fiel ihm der Anruf |333| wieder ein. Wenn ich mich nicht verhört habe, dachte er, gibt es diesen Lewin also immer noch. Therese hat es ja laut genug durchs Haus posaunt – bei ihr scheint der Junge auch gerade keinen Stein im Brett zu haben. Immerhin: das Mädchen ist ein bißchen munterer geworden, nicht mehr so trantutig, so kontaktschwach. Hat das mit seinem Singen – der Herr Lewin getan?
    Der Lastzug versank im Rückspiegel, abgebogen war der Jeep, eine Staubwolke nach Köln hinein. Vorn eine Giebelreklame, Dortmunder Aktienbier, gehört die Gegend jetzt auch zu ihrem Jagdgebiet? Hollenkamp ließ Irene halten, ließ sich von einem Straßenhändler eine dickleibige Illustrierte hereinreichen. Er begann zu blättern. Er nahm Notiz vom Wiederaufbau der Stadt Hamburg und von der Wohnungsnot in Ostberlin, las über einen amerikanischen GI, der ein Kind aus den Flammen gerettet, und über einen Sowjetsoldaten, der eine deutsche Frau vergewaltigt hatte.
    Irgend etwas verdroß ihn. Er sah nach der Uhr – sie mußten bald in Bonn sein.
    Das beste wird sein, dachte Hollenkamp nun, wenn ich sie gleich zurückschicke. Ich kann sie ja nicht gut stundenlang in diesem Kaff warten lassen. Rückwärts kann mich Servatius mitnehmen, er muß heute abend sowieso zu unserer lieben Westfalia. Wer ist eigentlich überhaupt auf die Idee gekommen, die Tarifverhandlungen ausgerechnet in Bonn abzuhalten? Und bei Fährhahn? Die Presse lacht sich einen Ast, wenn sie uns da auffahren sieht. Das riecht nach Verschwörung bis drei Meilen hinter Grönland. Aber da war schon das Ortsschild, nagelneu gepinselt, Gänse schnatterten fröhlich übern Straßengraben. Hollenkamp sah auf die Uhr. Ein paar Kilometer noch – sie waren gut gefahren. Um so besser, dachte er. Wenn Servatius schon da ist, können wir gleich noch die Sache mit den Papierfabriken limitieren.
    Sie kamen an die ersten Häuser der Stadt, und wie immer, wenn er in die Hauptstadt einzog, überkam Hollenkamp ein |334| sehr seltsames Gefühl. Er hatte einen Nerv für die abenteuerliche Mopsigkeit dieses Städtchens, einen echten sense of humour, und es gab, von den Einheimischen abgesehen, wohl kaum jemand, der ihn nicht hatte. Es war einmal ein redlicher Marktflecken, in dem sich Füchse und Schafe gute Nacht sagten, Handel und Wandel gediehen erträglich, die Glocken läuteten an Sonn- und Feiertagen, und die Schnellzüge fuhren vorbei. Zweimal in dreißig Jahren kam einer über die Bürger des Fleckens, Gerechte wie Halbgerechte, das war ein Schnitter, und der hieß Tod, und so hätte man eigentlich zufrieden sein dürfen und seinem Erwerb

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