Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
Vom Netzwerk:
sich die Gelegenheit öfter als sonst. Einmal hatte Hollenkamp davon gesprochen, daß er vielleicht wieder einen Chauffeur einstellen würde. Lieber Gott, dachte Irene, wozu brauchen wir denn einen Chauffeur? Bestimmt hat er es schon wieder vergessen, hoffentlich, sicher.
    Sie vergaß es auch selbst gleich wieder. Sie ging in ihr Bad hinüber, duschte sich, frottierte sich ab. Dann sah sie ihr wirres Haar im Spiegel, das Gesicht, das gerötet war von der Frische des Wassers, sah die gebräunte Haut der Schultern und den weißen Ansatz der Brüste. Gott, dachte sie, wie ein Zebra.
    |330| Sie öffnete den Schrank und nahm ein Kleid heraus, ohne lange zu wählen. Während sie sich noch anzog, hörte sie im Haus das Telefon schrillen, dann hörte sie die Schritte der Haushälterin Therese und das leise Klopfen an ihrer Tür. »Ja?« sagte sie erstaunt. »Ein Anruf für Sie«, sagte Therese draußen. »Es ist Herr Lewin.« – »Lewin?« rief Irene. »Ja, gleich«, sagte sie dann erregt, »sag ihm, ich bin gleich da.«
    Sie strich sich hastig mit der Bürste durch das Haar, riß am Verschluß des Kleides, der sich so eilig nicht schließen lassen wollte, dann lief sie zum Telefon.
    »Hallo, Martin«, sagte sie herzlich.
    »Hallo«, sagte Lewin. »Ich habe dich hoffentlich nicht gestört?«
    »Aber nein«, sagte sie. »Von wo rufst du denn an?«
    »Von diesem Hotel«, sagte Martin. »Ich bin mit dem Nachtzug gekommen.«
    Sie merkte nicht, wie müde seine Stimme klang. Seit er bei dieser Zeitung war, war er beinahe ständig unterwegs, und sie wußte fast nie, wo er sich gerade befand. Sie hatte angefangen, sich daran zu gewöhnen.
    Dann fiel ihr ein, daß sie ihn fragen müsse, welches Hotel das sei, ›dieses‹ Hotel. Und als sie schon fragen wollte, dachte sie daran, daß er sein Zimmer aufgegeben hatte und seitdem immer, wenn er kam, im »Deutschen Hof« wohnte. So sagte sie nichts, lauschte nur in den Hörer hinein, in dem nichts war als das dünne Summen der elektrischen Spannung und das ferne Knistern, dessen Ursprung sie nicht kannte, und hatte plötzlich Angst, daß dies alles vielleicht gar nicht wahr sei. Gab es denn das wirklich, daß man über die Entfernungen hinweg mit jemandem sprechen konnte, eine Stimme hören konnte, antworten und an einem anderen Ort dieser Welt verstanden werden? Gab es denn wirklich Gedanken und Worte und Bedeutungen, die einfach den Raum durchquerten, um die Erde gingen in unfaßbarer Geschwindigkeit, und gehört wurden von einem, für den sie bestimmt waren? |331| Sie wußte, daß es nur ein paar Kilometer entfernt war, aber ihr war jetzt, als hörte sie das Flüstern vieler Stimmen, fremd und weither. Ihr war, als ob sie die Dunkelheit hören könne und die Entfernung, wie man die Stille hören kann. Das alles dauerte nur einen Augenblick. »Martin«, sagte sie, »was ist denn? Hörst du mich noch?«
    »Ja«, sagt er am anderen Ende der Leitung. Er schien auf etwas zu warten. »Hör mal«, sagte er dann, »können wir uns nicht irgendwo treffen?«
    »Ja«, sagte sie. »Es ist nur …«
    »Aber das macht doch nichts«, sagte er. »Ich hätte telegrafieren sollen, es ist meine Schuld. Ich wollte dich nur einmal sehen, bevor ich nach München fahre.«
    »Nein, nein«, sagte sie hastig. »Nachmittag bin ich ja wieder zurück!« Sie hatte ihm noch gar nicht gesagt, daß sie wegfahren wollte. »Wenn ich nur wüßte, wie lange es dauert«, sagte sie nun verzweifelt.
    »Ruf doch einfach im Hotel an«, schlug er vor. »Ich habe den ganzen Tag hier zu tun.«
    »Ja, ich rufe sofort an, wenn ich zurück bin. Oder soll ich dich lieber abholen? Wir könnten ein Stück hinausfahren, es wird bestimmt sehr heiß heute.«
    »Ja«, sagte er. »Du kannst mich auch abholen. Vielleicht fahren wir ein Stück hinaus.«
    »Gut, dann hole ich dich ab.« – Lieber Gott, dachte sie plötzlich, ich rede daher wie eine Kaffeeschwester. Sie hielt den Hörer noch eine Weile am Ohr. »Also bis dann«, hörte sie ihn sagen. Er hätte wenigstens ›ich freue mich‹ sagen können.
    Als sie ins Frühstückszimmer trat, saß Hollenkamp bereits vor seinem Kaffee. Er schob die Zeitung beiseite. »Na?« sagte er freundlich. »Stehen die Verehrer schon am Morgen Schlange?« Er strich goldgelben Käse auf eine Brötchenhälfte, lächelte still, sagte dann, als habe er lange darüber nachgedacht: »Dein verrückter Onkel Reinhardt – du kannst |332| dich doch noch an deinen verrückten Onkel Reinhardt erinnern? – also

Weitere Kostenlose Bücher