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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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dieses Tages hineinnahm in seine Erfahrung. Ja, dachte er, es ist Verlaß nur auf Eigenständiges. Aber es verschob sich alles, und was sie betroffen hatte, betraf immer mehr ihn. Manchmal, in der schwersten Zeit, hatte Anna ihn so angesehen, hatte dagesessen wie Ruth heute. Sie ist das Kind ihrer Eltern, dachte er. Er wußte, daß er sich auf sie verlassen konnte, und manches, was er für Anna empfunden hatte, empfand er nun für sie. Aber die Zeit verging zu schnell. Es war, als begleite er Ruth ein Stück auf einer Reise, die sie allein beenden mußte.
    Ein Mann und ein Mädchen, das seine Tochter ist, und dazwischen sind Jahre, Zeit, unwiederholbar. Noch geht er mühelos, noch steht im Schichtbus niemand auf, um ihm Platz zu machen – aber es fällt ihm schon auf, wenn sie ihn jünger schätzen, als er ist, und schmeichelt ihm, so weit ist es schon. Was steht noch aus? Die Jungen werden immer jünger. Er weiß, wie es zu dieser Gegenwart gekommen ist, er ist |487| an ihr beteiligt, aber es wird immer mehr ihre Gegenwart und immer weniger seine. Nur das nicht: recht haben wollen aus Erfahrung, wo der Schwung der Jungen Recht ist. Nur nicht diesen gefälligen Stolz auf Vergangenes, der sich selbst zum Maßstab nimmt für das Künftige. Nur dieses Mißtrauen nicht vor dem noch Unbekannten, und vor denen, die es in Anspruch nehmen, die es erfahren wollen und beim Namen nennen, weil sie schon ahnen, daß dies ihr Leben ist, das kommt nach dem seinen.
    Aber das kam wohl von selbst: Respekt wird den Jahren gezollt, Anerkennung den vergangenen Verdiensten, aber das Mitspracherecht räumt man nur dem ein, der das Heutige mit heutigen Augen sieht, und mit seinen eigenen.
    Da war es wieder wie damals im Schacht, als sie eingeschlossen lagen auf dem Unglücksbruch, und als alle standhielten und alle bestanden bis auf zwei: einen Alten – und einen Jungen. Ja, dachte er: Leben ist immer eine Aufgabe. In jedem Alter. Und zu jeder Zeit.

    Die Straße.
    Die Straße ist nicht mehr so, wie sie immer war. Damals hatte sie weder Anfang noch Ende, sie kam von weit her, und wo sie hinführte, war gar nicht auszudenken. Jetzt ist sie ein graues Stück Asphalt von genau 5,8 Kilometern Länge, aufgeteilt in zwei Kilometer Steigung, drei Kilometer Gefälle, achthundert Meter gerade so hin; sie ist in zwei Hälften geteilt durch eine Eisenbahnlinie, beschrankt bei Kilometer 2,7, am oberen Ende ist der Schacht, am unteren die Zeche. Dazwischen sind ungefähr dreitausend Schlaglöcher, manche so, daß man einen Zwillingsreifen gut drin unterbringen kann; dazwischen sind die zweihundert Meter am Steilabhang mit dem mehrfach durchbrochenen, mehrfach geflickten Geländer in der Kurve – im September, der ein Regenmonat war, drei Unfälle pro Woche; dazwischen sind |488| zweimal vierter und zweimal dritter Gang, Zwischengas, Kupplung, Anfahren, Warten, Warten.
    Als ob das nicht genug wäre.
    Aber dazwischen waren auch noch die Tonnenkilometer, der Plan, die Prämien. Also Karacho, Überholversuche, Rennen um die Plätze. Wer überholt wurde, mußte länger warten bei der Abfertigung, geriet aus der Reihe, der kam ganz schön ins Schwimmen. Alles für sein Geld. Da kamen sie bei Peter Loose aber gerade an den Richtigen. Er war erst ein paar Wochen dabei, aber es gab schon welche in seiner Schicht, die ließen ihn freiwillig überholen, wenn sie seinen Molotow im Rückspiegel heranziehen sahen. Eine Woche hatte er sich ausprobiert, eine Woche im Wagen – dann nahm er es auf. Es gab nur drei Überholmöglichkeiten auf der Strecke: einmal in der Kurve am Steilabhang, wenn man sie schneller nahm als die anderen und Glück hatte mit dem Gegenverkehr, zweitens an der Schranke, wenn man sich hart und zentimetergenau hineinmanövrierte zwischen die Wartenden, denn allesamt standen sie pro Schicht mindestens eine halbe Stunde am Übergang, der Zugverkehr war umwerfend. Drittens und letztens aber die Großchance am Zechenplatz. Der begann mit einer Kurve von hundertachtzig Grad, eine volle Kehrtwendung, und beinahe immer steckte er im Schlamm achshoch. Wer da Pech hatte und keinen Mut, hart innen zu fahren, blieb stecken. Wer Glück hatte, kassierte dort manchmal zwei, drei Vordermänner auf einen Ritt.
    Und natürlich gab es Partei und Gegenpartei. Partei waren die lauteren Kraftfahrer, die Gemütlichen, die auch mal abstiegen und ein paar Schippen Sand auf den Schlamm warfen, was natürlich nichts nützte, alles in allem fuhren sie Schonkost und

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