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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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Masse.«
    Zacharias versprach das. Er sah Röttig nach, wie der den Korridor hinunterging mit seinem militärischen Schritt, den Oberkörper straff aufgerichtet, abschwenkte ins Zimmer des Agit-Sekretärs, hörte ihn dröhnen: »Na, altes Sichtwerbungsgespenst, sag mal, wann hastn das letztemal einen richtigen |542| Arbeiter aus der Nähe gesehen, aber sei ehrlich …« Zacharias stand lächelnd im Gang, dann ging auch er, straffer als gewöhnlich, soldatisch – als er es bemerkte, sahen ihm schon zwei Reinemachfrauen nach, da bog er eilig um die Ecke.
    Auf die Minute genau um zehn Uhr fuhr Hänschen vor, signalisierte dreimal lang und öffnete die rechte vordere Wagentür. Der Wagen war frisch gewaschen, nichts erinnerte mehr an die Nachtfahrt. Zacharias erklärte die Route: Objektleitung Bermsthal, dann Kreisvorstand, dann Schacht 412. »Kreisvorstand?« fragte Hänschen. »Etwa zu Mustafa Axmann? Ich kondoliere, Genosse. Ich kondoliere von ganzem Herzen!«
    Bis Stolberg nahmen sie die Autobahn. Der BMW machte eine glatte Hundert, er lief ruhig und gleichmäßig. Mehrfach kamen sie an unbestellten Feldern vorüber, Brachäckern, verqueckt und rissig. Zacharias, der vor sich hin gesummt hatte, wurde still. »Naja«, sagte Hänschen, »es ist überall das gleiche. Mit der Mistgabel müßte man dazwischenfahren. Wenn der Bauer seinen Grund und Boden verläßt, da war noch immer was faul im Lande. Aber da sitzen sie herum und fassen Beschlüsse, einer immer verrückter als der andere, die reine Utopie – wissen möcht ich, wo denen der Verstand sitzt. Und das Herz!«
    Zacharias schwieg. Was hätte er antworten können? Ja, wenn es Kulaken gewesen wären, Spekulanten, Großbauern. Aber wie oft betraf es gerade die Mittel- und Kleinbauern, auch ehemalige Landarbeiter, die durch die Bodenreform erst Land bekommen hatten und es nun im Stich ließen. Was sollte er antworten? Daß sich die Bürokraten eingenistet hatten, die Schwätzer, Schönfärber, die Sektierer? Er war oft genug mit Hänschen unterwegs gewesen und wußte: Das alles weiß der auch. Der unterschied einen Parteiabzeichenträger nach zehn Minuten von einem Genossen, einen Feind von einem Schwankenden – oder von einem, der verstehen wollte, wollte, aber nicht konnte. Und daß diese Typen wie Unkraut |543| aus dem Boden schossen, daß ihnen so schwer beizukommen war, vor allem: daß das Zentralkomitee noch immer keine entscheidenden Gegenmaßnahmen traf. Wo lagen die Ursachen? Sand war im Getriebe – wo kam er her? Ja, vieles war offenkundig. Die Spaltung des Landes; der Kampf überall in der Welt, der sich in Deutschland deutlich niederschlug in den Auseinandersetzungen der Besatzungsmächte; der äußere Feind, der die Unruhe im Innern schürte und von ihr profitierte; der Widerstand der verbliebenen Reste der eigenen Bourgeoisie; die Gegner in den eigenen Reihen und die vorkommenden Fehler und Unsicherheiten so mancher ehrlicher Genossen, zu unkundig noch der Leitung des Staates und der Wirtschaft, kundig genug jedoch des historischen Gesetzes, das ihnen und nur ihnen die Leitung und Durchführung der Revolution übertrug … Offenkundig war vieles. Aber war es alles?
    »Mich brauchst du nicht zu agitieren«, sagte Hänschenklein. »Ich sehe schon, daß ihr Tag und Nacht auf den Beinen seid, du und Röttig und Neubert und solche wie Kummich und Schulz. Ja, wenn sie alle so wären. Aber ich hab schon manchen hier drin gehabt, da würdest du bloß die Ohren anlegen. Sektenprediger, macht- und mißtrauensbesessene Hohlköpfe, Kriminalbürokraten, Kleinbürger im Namen des Proletariats. Die haben keine Ahnung, was draußen eigentlich los ist. Wenn die den Mund aufmachen, jeden zweiten Satz kann ich ihnen widerlegen. Aber das Zuhören haben die ja auch schon lange verlernt. Die grinsen verständnislos und selbstsicher in die Gegend und säuseln: Sieh mal an, der Genosse Kraftfahrer kennt die Probleme. Wo hast du bloß den Überblick her, Genosse? Habt ihr denn so wenig zu tun? Wie machst du das bloß, daß du soviel Zeit hast? Na, wenn die Partei mich mal nicht mehr braucht, dann mach ich mir ein gemütliches Leben – ich setz mich ans Gaspedal, und du machst die Politik, was meinst du, Genosse, hahaha! Siehst du, die haben alle Weisheit der Partei gepachtet, und unsereiner |544| kann höchstens noch zu ihrer Erheiterung beitragen. Beispielsweise Holzgräber. Der blinzelt durch seine Brille und sieht draußen ein halbfertiges Haus, das war vorm Jahr schon

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