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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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Thesen gar nicht verkünden, wenn nicht Leute da wären, die wachsam sind, die dem Feind keinen Raum geben, die mit aller gebotenen Härte durchgreifen. Das ist natürlich vorwiegend wahr, meinte der Anwalt noch. Nur sei es ja aber eben gerade um die Frage gegangen, ob die Mehrzahl der Angeklagten tatsächlich Feinde des Staates seien, Aufruhr provoziert hätten, so eindeutig sei das Ergebnis der Beweisaufnahme wiederum nicht. Ja aber eben doch schließlich eindeutig genug. Ein vertrackter Fall. Er möchte Bergschicker jedenfalls empfehlen, Berufung einzulegen. Aber Bergschicker verzichtete.
    Übrigens Ihr Freund Loose, der darf ganz zufrieden sein, daß gegen ihn nicht noch ein Verfahren abgetrennt worden ist nach Artikel sechs und Kontrollratsdirektive achtunddreißig. Solche faulen Witze, wissen Sie, das ist ja nun doch ein starkes Stück. Soll er sich das eine Lehre sein lassen. Also wenn er mir diese Schweinerei erzählt hätte, ich weiß nicht. Soll er sich zur Arbeit melden. Wenn er Glück hat, kommt er in die Steinkohle. Da gibt’s bei entsprechender Normerfüllung für zwei Tage Haft drei Tage Strafe angerechnet. Da kann er in zwei, drei Jahren wieder raus sein, wenn er sich ein bißchen anstrengt.
    Damit enden die Bilder. Da versiegt die Begebenheit, es beginnt die Zäsur. Etwas Licht ist immer. Das kommt von den Scheinwerfern, die das Gebäude anstrahlen von außen, das ist ein Licht zur Verhinderung von etwas. Aber etwas kommt immer herein, und wenn es das ist, erkennbar die Schlafenden, die Wand, an der man liegt, vergilbter Mörtel. Und das Klirren der Schlüssel, Schritt der Kaffeeholer, vergebliches Gleichmaß der Frühe. Es bleibt alles an seinem Ort. Kratzen der |536| Löffel in den Blechschüsseln, der bleierne Ozean des Mittags, die bittere Dämmerung. Das ist ganz sicher die gleiche Landschaft. R. L., Josef K., Mauern, die verharren in der Veränderung – man wird es nie erfahren. Und die Stadt draußen, Stadt aus ähnlichen Ecken, da war ein Abend von zärtlicher Farbe, aber die Orte gleichen sich alle von hier aus. Gewinn muß bezahlt werden.

    Auch vom Prozeß erschien ein Bericht in der Zeitung, drei Spalten unterm Strich, der Reporter schilderte noch einmal die Ereignisse beim Parkfest, um dann das Strafmaß bekanntzugeben, das Verhalten der Angeklagten bezeichnete er als reuig. So weit gingen die Mißverständnisse.
    Der Artikel erschien aber an einem fünften März in der Frühe, einem verhältnismäßig milden Tag, das sagt alles. Ärztliche Bulletins, verhalten-sachliche, es gingen aber Gerüchte um über die Ärzte, Bulletins vom Vortag jedenfalls, veraltete. So horchten sie den Äther ab, schnellere Nachrichtenverbindungen gab es und verläßlichere, Fenster zur Welt, vorwiegend geöffnet in eine Richtung. Dreiundsiebzig, hieß es, das ist doch kein Alter, es hieß: Sterblich sind wir Menschen allzumal. Überall gab es welche, die zwischen den Zeilen zu lesen suchten, zwischen den Worten zu hören der Nachrichtensprecher, als ob ihr Leben abhinge von jenem Leben und ein unsichtbarer Faden sie alle verbände mit ihm, Millionen Fäden über alle Länder hin, jäh bedroht, unfaßbar. Überall gab es Menschen, die seit Tagen leise sprachen oder still blieben, als sei der Todkranke anwesend bei ihnen allen.
    Denn in die Grube muß ein jeglicher. Als aber die Nachricht eintraf, unwiderruflich, war dennoch keiner vorbereitet. Eine ungeheure Benommenheit lag über dem Land, eine stählerne Stille. Auf Straßen und Plätzen blieben die Menschen stehen unter den Lautsprechern, sie hielten den Atem an, sie nahmen die Mützen ab, diese Sekunde war grenzenlos. Was |537| sollte werden ohne ihn? Wie sollte das Leben weitergehen? War er denn nicht wirklich unsterblich erschienen den meisten: fern, allgegenwärtig, ungeheuer über allen, allmächtig?
    In dieser Sekunde zerfiel die Welt in Einzelnes, die Drohung betraf jeden. Auf sich selbst verwiesen, sahen die Ruderer: es ist keiner neben ihm und keiner, der ihm gleicht. Wer soll nun die Hand halten über uns und wer dem Wind gebieten, wer über den Wassern gehen und uns geleiten nach Genezareth? Wer soll die Hungrigen speisen und die Kranken heilen, wer soll wachen über uns und wessen Bildnis über allen anderen sein? Und als sie das Volk sahen am Ufer, trauernd zumeist und den Himmel absuchend nach neuen Unglücken, verzagten wohl manche. So kam auch noch keine Kunde unters Volk von den ungeheuren Anstrengungen und großen Kämpfen, die schon im

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