Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
Vom Netzwerk:
Gange waren. So ging die See sehr hoch unter dem Boot, und die Brandung lag noch vor ihnen, alle Ruder wurden gebraucht, einige aber, des Ruderns allzu unkundig, erregten den Unwillen anderer.
    Dann begannen die Trauerfeiern. Die dauerten eine Woche unvermindert an. In den Schulen erhoben sich die Kinder zu fünf Schweigeminuten, alle Fahnen sanken auf Halbmast, alle Rundfunkstationen strahlten feierliche Programme aus, unterbrochen immer wieder von Schilderungen aus dem Leben des Verstorbenen, von den kondolierenden Stimmen der Prominenten des Landes und von Berichten über die Feierlichkeiten in der Hauptstadt des großen Toten, die immer mit den Worten begannen: Das größte Herz der Menschheit hat aufgehört zu schlagen. Symbolische Totenwachen zogen in allen Städten, in Betrieben, Dörfern, Verwaltungen, Kasernen, Bildungsstätten auf. Veranstaltungen wurden abgesagt bis auf wenige, der Staatstrauer gemäße. In den Kinos wurden Filme gezeigt, die das Leben des Verstorbenen würdigten. Es wurden Gelöbnisse abgelegt, alle Zeitungen druckten Nachrufe und druckten Fotos des Verstorbenen, überall wurden Ausstellungen eröffnet über sein Werk, neue Auflagen |538| seiner Schriften wurden veröffentlicht, Dinge, Städte und Programme nach ihm benannt, die Bildhauer versuchten sich an ersten Entwürfen für die Monumente.
    Das Leben ging weiter.

    Zacharias betrat das Gebäude der Gebietsleitung und sah einen Augenblick hinüber auf das große Bild, das gegenüber dem Eingang in der Halle hing. Er stieg die Treppe hinauf. Er grüßte einen Org.-Instrukteur, den er kannte. Das Haus kam ihm ungewohnt still vor. Die roten Fahnen und Spruchbänder in der ersten Etage waren entfernt worden, neue noch nicht angebracht.
    In seinem Zimmer fand er den Schreibtisch kahl und aufgeräumt, die Luft war abgestanden, der Gummibaum ließ die Blätter hängen. Zacharias öffnete das Fenster. Er war sehr viel unterwegs gewesen in den letzten Wochen. Er würde auch heute wieder unterwegs sein. Aber er hatte Hänschenklein, seinem Fahrer, der eigentlich Hans Klein hieß, streng untersagt, vor zehn Uhr zum Dienst zu erscheinen – sie waren spät in der Nacht erst zurückgekommen.
    Es war jetzt kurz vor acht. Er nahm den Bericht, den er gestern geschrieben hatte, und brachte ihn der Sekretärin zum Abschreiben. Er hatte einen Widerwillen gegen diese Berichte. Zuviel Zeit wurde investiert, zu wenig Nutzen schaute heraus. Zudem wußte er, wie oft solche Berichte routinemäßig ›erstellt‹ wurden, immer nach dem gleichen Schema, nach dem gleichen Schema abgeheftet oder weiterverarbeitet für einen anderen Bericht, bestenfalls abgesucht nach Beispielen, die eine einmal gefaßte Meinung belegen konnten, ein ›Argument erhärten‹, zu Schlagworten geronnen allesamt.
    Dabei fielen ihm die Geschichten ein, die ihm gestern in der Mittagspause der Parteisekretär eines Johanngeorgenstädter Schachtes erzählt hatte, ein bebrillter Hüpfer, der aus der FDJ kam und drei Jahre Hauerbrigadier gewesen war sowie mehrfacher Aktivist, von chronisch guter Laune, immer |539| zu Späßen aufgelegt. »Sag mal, Zacharias, weißt du, was der Unterschied ist zwischen dem Klassenfeind und den Bürokraten? Na, der Klassenfeind macht uns Schwierigkeiten, die Bürokraten leiten sie weiter. Oder weißt du, was ein Dogmatiker ist? Das ist einer, der sich in den Schriften auskennt und das Leben nur anerkennt, wenn es mit den Schriften übereinstimmt. Oder der Unterschied zwischen einem Kleinbürger und einem Sektierer? Also da ist gar keiner. Die wollen beide unter sich bleiben …« Solche Sachen hatte der Brillenmensch fuderweise auf Lager.
    Auf dem Korridor traf Zacharias den zweiten Sekretär. Willi Röttig trug einen mächtigen Schädel durch die Welt, einst hatte er ihn aus einer Strafkompanie zu den slowakischen Partisanen gerettet. Röttig war wie Zacharias seit fast dreißig Jahren Mitglied der Partei. Bei der Wismut war er von Anfang an, hatte den ersten Schacht mit aufgefahren, hatte später bei einem Grubenbrand sieben Kumpel herausgeschleppt, er war bekannt für seine Spottlust. Er blieb vor Zacharias stehen, seine Stimme dröhnte in dem engen Korridor: »Glück auf, wie geht’s, was gibt’s Neues?« Zacharias erzählte ihm die Geschichte von dem Brillenmenschen. Röttig stemmte die Arme in die Seiten, er zwinkerte, hatte auf einmal ein Spinnwebnetz von Fältchen in den Augenwinkeln, er schnaufte, die Brust dehnte sich, spannte die Nähte

Weitere Kostenlose Bücher