Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rune der Knechtschaft

Titel: Rune der Knechtschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
Vom Netzwerk:
Verbrechen, unnötige Risiken einzugehen. Ein König darf sein Leben nicht ohne triftigen Grund in Gefahr bringen.«
    Marikani schüttelte den Kopf, und Arekh wurde sich aufs Neue bewusst, wie absurd die Situation war … der Wald, der Geruch der feuchten Pflanzen, die Erschöpfung, die Gefahr. Und er war dabei, über Philosophie zu debattieren.
    Dennoch stellte er sich die Frage wirklich. Warum hatte sie so gehandelt? Ihm ging plötzlich auf, dass dieses Rätsel schon während ihrer ganzen Flucht in einer unbeachteten Ecke seines Geistes an ihm genagt hatte. Marikanis Handlungsweise war verblüffend unlogisch, wenn man die Umstände, ihren Rang und den Zeitpunkt in Betracht zog … Nein, er konnte sich nicht erinnern, jemals etwas Derartiges erlebt oder auch nur davon gehört zu haben.
    War er deshalb geblieben? Um es herauszufinden? Er hatte geglaubt, tot zu sein, war aber noch am Leben … und verstand nicht, warum.
    »Ihr habt recht«, verkündete Marikani ruhig. »Ihr habt recht … Zumindest theoretisch sollten all meine Handlungen sich von der Logik leiten lassen. Aber ich glaube, dass uns manchmal die Intuition leitet. - Ich habe bestimmte Moralvorstellungen«, fuhr sie fort, nachdem sie kurz nachdenklich geschwiegen hatte, »und ich versuche, ihnen zu folgen. Und diese Vorstellungen sind nicht an meine politische Funktion gebunden.«
    Arekh runzelte die Stirn. »Alle persönlichen Moralvorstellungen
stehen gezwungenermaßen im Gegensatz dazu. Ihr dürftet eigentlich nur an das Wohl Eures Landes denken - und das erfordert, dass Ihr am Leben bleibt.«
    »Aber versteht Ihr denn nicht? Die Frage hat sich gar nicht gestellt, weil ich sie mir nicht gestellt habe. Ich habe die Galeere sinken sehen und habe reagiert … instinktiv.«
    Sie stand plötzlich auf, während Lionor begann, den Proviant einzusammeln. Mîn erhob sich ebenfalls. Er musterte Arekh und Marikani mit großen, staunenden Augen und schien nichts von ihrem Gespräch verstanden zu haben.
    »Instinktiv? Aus einer Gefühlsaufwallung heraus, wollt Ihr sagen. Und Ihr habt kein Recht auf Gefühle.«
    »Vielleicht nicht … Aber hatte ich unrecht? Wir wären auf diesem Boot gestorben, wenn ich Eure Fesseln nicht durchschnitten hätte.«
    »Ihr wärt gar nicht in Gefahr gewesen, wenn Ihr keinen von uns befreit hättet.«
    Marikani schüttelte den Kopf. »Aber Ihr seid uns nicht nur das eine Mal nützlich gewesen. Erinnert Euch! Ihr habt mir diesen Vogel vom Hals geschafft. Ihr habt uns bis hierher geführt. Ihr habt gegen den Soldaten gekämpft. Binnen eines Tages habt Ihr uns gleich drei Mal gerettet. Meine ›Gefühlsaufwallung‹, wie Ihr es nennt, hat mir recht gute Dienste geleistet.«
    Ihre Worte hätten vielleicht größere Wirkung gehabt, wenn sie nicht von einem Windstoß unterstrichen worden wären - einem eisigen, feuchten Windstoß, der die Wärme und Lieblichkeit der Landschaft mit sich fortriss. Man hätte annehmen können, es sei eine Winternymphe vorbeigehuscht, um den Lebenssaft der Bäume gefrieren zu lassen und den Farben ihr Leuchten zu nehmen.
    »Ihr wisst nicht, wer ich bin«, sagte Arekh langsam. »Ihr
wisst nicht, wozu ich fähig bin und was ich mit Euch vorhabe. Triumphiert nicht voreilig!«
    Die Nymphe huschte noch einmal vorbei, und mit ihr kam ein Kälteschauer. Mîn, der den letzten Satz nicht gehört hatte, zitterte dennoch und hob die Augen zum Himmel, als hielte er Ausschau nach Vorzeichen.
    »Wir werden sehen«, sagte Marikani.
    Sie hatte keine Angst … Mut oder Sorglosigkeit? Arekh konnte sich nicht entscheiden. Lionor warf ihm einen finsteren Seitenblick zu und wandte dann die Augen ab, als sei sie sich selbst böse dafür, recht zu haben.
    »Wir müssen aufbrechen«, sagte sie schließlich, und sie packten die mageren Reste ihrer Vorräte wieder ein, bevor sie vom Felsen herunterkletterten.

KAPITEL 3
    Am Himmel erschien zwar kein Vorzeichen, aber ein weiterer Greifvogel. Lionor erspähte ihn eine Stunde später, als sie den Hang hinaufstiegen. Dem Sonnenstand nach zu urteilen gingen sie nach Südwesten, was dadurch bestätigt wurde, dass sie die bleiche Mondkugel E-Fîrs am klaren Himmel sahen.
    E-Fîr. Gott des Wandels, an den sich nur noch wenige erinnerten, denn nach dem Sturz des Gottes, dessen Namen man nicht ausspricht, hatte das Volk aufgehört, die Monde zu verehren, und sich stattdessen den Sternen zugewandt. Die alten Herrscher des Himmels waren vergessen. Jetzt erinnerten sich nur noch einige Gelehrte an

Weitere Kostenlose Bücher