Rune der Knechtschaft
entfernte sich; sie hatten einen stummen Waffenstillstand geschlossen.
Am folgenden Tag erschien im Laufe des Nachmittags Ratsherr Viennes mit einer Delegation aus Reynes auf dem Platz. Der Bürgermeister war bei ihm, und Arekh hatte ein grausames Vergnügen daran, ihn völlig aufgelöst Viennes’ Rede lauschen zu sehen. Der Ratsherr erläuterte, dass Marikani, von der Götter Gnaden Erbin von Harabec, nun unter dem Schutz der Fürstentümer stand. Der arme Bürgermeister musste sich wie ein Stück Obstschale fühlen, das langsam zwischen zwei Felsbrocken zerrieben wird. Auf der einen Seite der Emir, sein Nachbar, dessen militärische Schlagkraft und legendären Jähzorn er nur zu gut kannte - der Emir, der es ihm persönlich übel nehmen würde, wenn Marikani ihm zwischen den Fingern hindurchschlüpfte. Auf der anderen Seite die Fürstentümer von Reynes, die seit dreitausend Jahren die wichtigste Macht der Königreiche darstellten.
Man erregte einfach nicht das Missfallen der Fürstentümer. Nicht, wenn man Handel treiben wollte, nicht, wenn man politisch überleben wollte - und auch nicht, wenn man einfach nur überleben wollte.
Und die Kaufleute, die alle mit Faez Handel trieben, würden dem Bürgermeister die Pest dafür an den Hals wünschen, dass er sich nicht besser aus der Affäre gezogen hatte. Die Wahlen zum Stadtrat fanden in einigen Monaten statt …
Die Tränenstadt würde bald ein neues Oberhaupt haben.
Mit einstudierter Förmlichkeit setzte Marikani einen
Fuß auf den Ponton und schritt dann unter dem Blick der Stadtbewohner, der Würdenträger und der beiden Delegationen bis zum Platz, den sie überquerte, um zur Botschaft von Reynes zu gelangen. Die Menge wich zurück, um ihr den Weg frei zu machen. Offiziell war dies das erste Mal, dass sie einen Fuß auf festen Boden setzte, seit sie in die Stadt gekommen war. Arekh fragte sich, wie viele Anwesende wussten, dass sie es in Wahrheit schon längst getan hatte.
Lionor, die an Arekhs Seite einige Schritte hinter Marikani ging, beobachtete die Menge. Fürchtete sie einen Pfeil, einen Mordversuch? Natürlich war alles möglich, aber Arekh war nicht beunruhigt. Nicht jetzt. Nein, denn dem Bürgermeister war ohne Zweifel klar: Man erregte einfach nicht das Missfallen der Fürstentümer.
Die folgenden paar Tage in der Botschaft von Reynes verliefen entspannter. Marikani wurde dort wie eine Herrscherin auf Reisen behandelt - was sie schließlich ja auch war -, und obwohl sie aus Vorsicht keinen Fuß vor die Tür setzte, suchten Mitglieder der großen Familien aus der Umgebung und Repräsentanten der Regierungen der übrigen Städte der Region sie auf, um Höflichkeitsbesuche abzustatten oder Audienzen zu erbitten.
Bald trafen auch Nachrichten aus Harabec ein, darunter ein Brief von Banh, Marikanis innenpolitischem Berater. Marikani war von seiner Loyalität überzeugt, aber Arekh, der ihr den Brief brachte, bemerkte sofort, dass das Siegel schon gelöst war.
Der berühmte »Cousin« konnte eben keine Botschaft an seine Rivalin durchlassen, ohne sich vorher vom Inhalt überzeugt zu haben.
Der Brief enthielt ohnehin nichts Interessantes: nur Komplimente zu Marikanis Rückkehr und die Versicherung,
die Truppen seien unterwegs. Banh musste gewusst haben, dass seine Botschaft gelesen werden würde. Um die wahre politische Situation in Harabec einschätzen zu können, würden sie abwarten müssen.
Marikani kehrte noch einmal auf die Boote zurück, um sich ein letztes Mal mit dem Herrn der Verbannten zu treffen. Arekh beobachtete sie vom Ufer aus. Der erste Teil des Gesprächs verlief ernst und konzentriert: Sicher handelten sie die letzten Abmachungen über die Schleusenzölle aus. Dann legte der Herr der Verbannten seine Handfläche gegen die Marikanis und sprach lange mit ihr. Als Marikani an Land zurückkehrte, wirkte sie verstört und nachdenklich. Arekh fragte sich, ob der Herr der Verbannten sie auf die Geschichten am Abend der Verbindung des Geistes angesprochen hatte.
Es gab so vieles in diesen Geschichten, was Arekh nicht verstand. Mit geschlossenen Augen versuchte er, sich an die zentralen Themen zu erinnern und herauszufinden, was Hathot ihnen hatte sagen wollen.
Eine nach der anderen brachen die Säulen zusammen, zerquetschten die Saryger unter ihrem Gewicht und zerstörten die ganze Stadt, die nie wieder aufgebaut wurde … Alle drei Geschichten, an die er sich erinnerte, drehten sich um Zerstörung, Katastrophen … das Ende. War es das
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