Rune der Knechtschaft
gewesen, was der Herr der Verbannten Marikani erläutert hatte, als er sie so fest an der Hand gehalten hatte? Dass sie aufpassen musste, weil die Götter ihren Tod vorhergesagt hatten?
Zwei Tage später erschien ein Bote, der verkündete, dass Truppen aus Harabec südlich des Joar warteten.
Das Gerücht war ihnen vorausgeeilt. In der Botschaft von Reynes wusste man schon, bevor die Nachricht des Leutnants eintraf, dass es zweihundert Mann waren, hundert
Reiter und hundert Fußsoldaten, befehligt von zwei Offizieren, die Marikani treu ergeben waren. Obwohl sie nicht wissen konnten, was genau sich in Harabec abspielte, sah es nach einem Sieg für Banh und die Parteigänger der jungen Frau aus, da es gelungen war, eine Truppe von bedeutender Größe zu schicken. Es war auch eine Warnung.
Hundert Kavalleristen, hundert Fußsoldaten, bis an die Zähne bewaffnet.
Die Botschaft war eindeutig.
»Nehmt euch in Acht!«
Die Soldaten erhielten jedoch nicht das Recht, die Stadt zu betreten: Das war jedem »waffentragenden Mann« verboten, wie der Bürgermeister in einem kurzen, zornigen Brief an Marikani verkündete. Das war natürlich lächerlich, weil tagtäglich bewaffnete Männer in der Stadt ein und aus gingen - der Herr der Verbannten hatte Arekh sogar ein neues Schwert geschenkt, nachdem dieser seines im Schlick verloren hatte.
Aber Marikani musste mitspielen. Eine neue Reihe offizieller Verabschiedungen fand statt, darunter eine kleine Rede auf dem Marktplatz vor den Würdenträgern und Schaulustigen, in der sie dem Bürgermeister und der Tränenstadt unendlich für ihre großzügige Gastfreundschaft dankte. Dann kehrte sie in die Botschaft von Reynes zurück, um »einige letzte Gepäckstücke« zu holen, bevor sie in einer kleinen Sänfte, eskortiert vom Ratsherrn Viennes und drei Männern aus den Fürstentümern, aufbrechen wollte.
Die kleine Sänfte bewegte sich schon bald aufs Südtor zu.
Natürlich hatte Marikani kein »Gepäck«. In Wirklichkeit saß auch niemand in der Sänfte. Arekh und der Ratsherr
waren beide der Meinung gewesen, dass es viel zu gefährlich gewesen wäre, die Tränenstadt vor aller Augen zu durchqueren.
Dies war die letzte Chance des Emirs: Danach würde Marikani von den Ihren beschützt werden.
Nachdem die Sänfte aufgebrochen war, drängte sich die Menge weiterhin vor der Botschaft von Reynes, um neugierig nachzusehen, wo die fremde Prinzessin gewohnt hatte. Ein »Fehler« der Wachen an der Tür gestattete es den Gaffern, bis in den Hof vorzudringen, und etwa hundert Stadtbewohner, darunter viele Frauen und Kinder, drängten sich auf dem Pflaster vor dem Gebäude. Als Viennes’ Assistent sich laut über die Unordnung erregte und alle hinauswarf, ließen sich Lionor und Marikani, als Frauen aus dem Volk verkleidet, im Strom der Menge mittragen.
Arekh ging einige Schritte hinter ihnen, um sicherzustellen, dass niemand, der sich verdächtig verhielt, ihnen folgte. Er bemerkte zwei Neugierige, die auf Fässern gegenüber vom Haupttor hockten. Die beiden Männer wirkten ein wenig zu muskulös und hielten sich etwas zu aufrecht, als dass sie für arme Müßiggänger aus der Tränenstadt hätten durchgehen können. Aber sie bemerkten die beiden falschen Bäuerinnen nicht, die in eine Gasse einbogen und bald aus ihrem Gesichtsfeld verschwanden.
Arekh folgte ihnen weiter. Wie abgesprochen drehten sich die beiden Frauen kein einziges Mal um. Sie gingen in östlicher Richtung, überquerten die Kanäle auf kleinen Holzbrücken, unter denen hier und da Verbannte in Kähnen hielten, um Früchte, Gewürze und getrockneten Fisch zu verkaufen. Niemand bis auf Viennes und seinen Assistenten war in den Plan eingeweiht.
Anderthalb Stunden später trafen die beiden Frauen am
Osttor der Stadt ein, wo sie wie abgesprochen in der Torschenke haltmachten, um eine Erfrischung zu sich zu nehmen. In Wirklichkeit mussten sie dort auf das Eintreffen einer Botschaft von Viennes warten, dass alles in Ordnung war, bevor sie sich durchs Tor und aus der Stadt wagen konnten.
Die Torschenke war ungewöhnlich gelegen. Die Mauerabschnitte, die die Stadt umgaben, hatten unterschiedliche Ursprünge und stammten aus den verschiedensten Epochen: Manche, die schon mehrere Jahrhunderte alt waren, drohten seit langem einzustürzen, und Bürgermeister um Bürgermeister hatte den Zeitpunkt, sie zu reparieren, immer weiter aufgeschoben. Der Ostteil, der noch aus der Zeit der Steinkriege vor vierhundert Jahren stammte, war
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