Rune der Knechtschaft
sagte der alte Mann in beschwichtigendem Tonfall, während der Soldat sich bereit machte einzugreifen. »Wenn Ihr so freundlich wärt, einen Brief abzufassen, in dem Ihr das Motiv für Eure Bitte schildert …«
»Nein!«, schrie Arekh. »Ich muss …«
Marikanis Stimme ertönte. »Banh, lass ihn eintreten.«
Arekh sah die Silhouette der jungen Frau in der Tür erscheinen. Die Erleichterung, die er darüber empfand, sie zu sehen, war intensiv und hatte nichts mit dem Urteil Um-Akrs zu tun.
Er trat ins Schreibzimmer, ohne ihr in die Augen zu blicken.
Im Innern war es dunkel und recht kühl. Das Wetter hatte sich geändert, während Arekh gewartet hatte. Durch die Fenstertür, die in die Gärten hinausführte, sah man ein menschenleeres Säulengebäude; Arekh war nicht in der Lage einzuschätzen, wozu es diente.
Der Himmel war grau, und Nieselregen kündigte sich an.
Marikani war im Zimmer allein mit einem Sekretär, der mit einer silbernen Feder schrieb. Sie trug noch die gleichen Kleider wie bei ihrer Ankunft, und die Haare fielen ihr ungekämmt ins Gesicht.
»Oh, Arekh, ich bin erschöpft«, murmelte sie und setzte sich wieder hin. »Sagt mir bitte, dass Ihr keine schlechten Nachrichten habt.«
Eine zweite Welle der Erleichterung durchflutete Arekh, noch stärker als die erste. Die Zukunft war von dem Satz abhängig, mit dem Marikani ihn empfing, das hatte er schon geahnt, als er hereingekommen war. Wenn es ein kalter, hochmütiger Satz gewesen wäre …
Aber so war es nicht.
»Noch nicht«, erwiderte er. »Aber wir müssen uns besser vorsehen. Was hat der Hohepriester gesagt? Wie werden sie Eure Identität überprüfen?«
»Es wird einen Prozess geben«, sagte sie mit einem Schulterzucken.
»Einen Prozess?«
»Vor der Prüfung. Ich hatte gehofft, dass die Prüfung reichen würde«, seufzte sie. »Denn das ist schon ein ganz schöner Aufwand: Der Erbe muss eine lange Reihe von Ritualen durchführen und wird von Weisen befragt, bevor er sein Blut dem Arrethas opfert. Buchstäblich. Man muss sich eine Ader aufritzen und eine kleine Vase, die die Statue in den Händen hält, mit Blut volllaufen lassen …«
Ein gewisser Zynismus war Marikanis Stimme anzuhören, aber Arekh schob das auf die Situation. Arrethas war einer der am meisten verehrten Götter der Königreiche. Er stand für die Zukunft, lenkte die Blitze und besiegelte Schicksale. Die Tatsache, dass Harabec das Königreich des Arrethas war und dass die Königsdynastie aus seinen Nachkommen bestand, verlieh dem Land eine besondere liturgische Wichtigkeit. Unter den zahlreichen Prophezeiungen, die in den Königreichen im Umlauf waren, drehten sich viele um Arrethas. Der Legende nach würde ein Herrscher von Harabec eines Tages eine bedeutende Rolle für die Zukunft der Königreiche spielen.
Das war einer der Gründe für die Wichtigkeit der Prüfung. Jeder, der den Thron von Harabec bestieg, musste der Herrschaft würdig sein. Der Erbe oder die Erbin musste genug dunkles Blut in sich tragen - das Blut der Götter, das Blut des Arrethas -, um sicherzustellen, dass Harabecs enge Bindung an das Göttliche gewahrt blieb. Wenn der amtierende Erbe bei den Ritualen der Prüfung versagte, wurde er abgesetzt.
Der nächstfolgende Erbe musste dann seinerseits sein Glück versuchen.
»Vor drei Wochen bin ich vierundzwanzig Jahre alt geworden«, fuhr Marikani fort. »Ich sollte eigentlich
rasch die Prüfung bestehen und den Thron besteigen … Harabec braucht einen starken Herrscher, besonders jetzt! Der Emir wird keine Ruhe geben, das steht fest, und die Situation in der Tränenstadt ist instabil. Und wenn Merris hört, was bei Hofe vorgeht, wird er die Gelegenheit ergreifen, um die Opalgrenze anzuzweifeln.« Sie seufzte erneut. »Aber nein, ich muss erst einen dummen Prozess über mich ergehen lassen, um zu beweisen, dass mich kein Soldat aus dem Emirat geköpft hat!«
»Vielleicht ist es gut, dass der Prozess die Prüfung verzögert«, sagte Arekh. »Ihr braucht Zeit, um Euch auszuruhen … Die Rituale sollen schwierig sein, und Ihr müsst dafür sorgen, dass Ihr die denkbar beste Ausgangsposition habt.« Dann ging ihm auf, was sie gerade gesagt hatte. »Vierundzwanzig Jahre alt, seit drei Wochen? Aber …«
»Im Sommerpalast«, erklärte Marikani. »Während Mîns Genesung.«
Kurzes Schweigen folgte. Arekh fragte sich, ob es in ihr das gleiche Gefühl auslöste, den Namen des Jugendlichen auszusprechen, das er eben selbst empfunden hatte, als
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