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Rune der Knechtschaft

Titel: Rune der Knechtschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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nicht viel rede, wurde mir als Heuchelei ausgelegt. Ich war schon damals nicht geschwätzig, das war alles, aber man verdächtigte mich düsterer Gedanken. Und eines Tages …«
    Arekh schauderte; was nun kam, war schwer auszusprechen.
    »Eines Tages«, fuhr er fort und hielt gleich wieder inne, um Atem zu holen, »eines Tages nahm ich meinen Bruder mit auf die Wildschweinjagd. Wir stellten den ganzen Nachmittag lang einem Keiler nach; es war sehr heiß. Als sich das Wildschwein endlich zeigte, war Ires müde. Das Tier stürmte geradewegs auf uns zu. Ires riss seinen Speer hoch, aber ich begriff, dass er nicht richtig treffen würde. Der Keiler hatte uns schon fast erreicht. Ich stieß als Erster zu, aber mein Spieß glitt von einem Knochen des Tieres
ab, drang Ires in die Brust und … Kurz und gut, der Anblick verfolgt mich noch heute.
    Als ich Ires’ Leichnam nach Hause brachte, wurde ich mit großem Schweigen empfangen. Keine Tränen, keine Schreie. Ich dachte, dass meine Mutter in krampfhaftes Schluchzen ausbrechen würde, aber das geschah nicht. Sie nahm den Leichnam meines Bruders und schloss sich mit ihm in einem Zimmer ein. Ich blieb allein im großen Saal zurück; ich wartete auf Vorwürfe, auf Rufe … nichts. Meine Cousins, unsere Vasallen, unsere Diener, alle, die sich an dem Tag auf der Festung aufhielten, wandten sich ab, als ob sie mir nicht ins Gesicht sehen wollten.
    Als die Nacht hereingebrochen war, rief mich mein Vater in sein Studierzimmer. Dort fragte er mich, was sich abgespielt hätte. Sein Gesicht war kalt wie Stein, als ich es ihm erzählte. Er sagte nichts dazu, sondern machte nur eine kleine Kopfbewegung, bevor er mich wieder hinausschickte. Und das war alles.«
    »Das war alles? Kein weiteres Wort? Keine Fragen? Wie alt wart Ihr da?«
    »Oh, ich war gerade dreizehn Jahre alt geworden. Ich war nicht alt genug, mich zu verteidigen, mit der Faust auf den Tisch zu hauen und darauf zu bestehen, die Dinge ans Tageslicht zu bringen, meine Unschuld herauszuschreien und das Geschwür aufzustechen. Aber ich war alt genug, um zu verstehen. Und in dieser Atmosphäre bin ich dann erwachsen geworden … Ich habe die folgenden vier Jahre meines Lebens in diesem grauen Gebäude verbracht, dessen Steine eisiger als das kälteste Packeis geworden waren. Man muss das durchlebt haben, um zu begreifen, wie es ist, als Kind Tag für Tag in einem Zuhause aufzuwachen, in dem alle, alle , vom Vater bis hinab zur geringsten Magd, glauben, dass man einen scheußlichen Mord begangen hat.
Kein Blick, in dem ich kein Entsetzen, keine Ablehnung las. Kein Wort, das natürlich klang und in dem ich nicht das schwarze Wasser des Abscheus oder, schlimmer noch, der Furcht hörte. Meine Mutter hatte Ires zwar immer bevorzugt, aber vor seinem Tod hatte sie mich zumindest so sehr wie meinen älteren Bruder geliebt. Danach war ich aus ihren Augen verschwunden. Sie hat mich nie mehr angesehen, kein einziges Mal in vier Jahren.
    Ja, es ist schwer zu erklären: Man weiß, dass man unschuldig ist, und doch ist man von Schuldgefühlen zerfressen. Stück für Stück beginnt das Bild, das man in den Augen der anderen erkennt, zum Selbstbild zu werden. Man starrt die Decke an und fragt sich, ob sie nicht vielleicht recht haben … Monate vergingen, und die Schuldgefühle verwandelten sich in eine Art schwarzen Zorns, der ebenso sehr gegen mich wie gegen die anderen gerichtet war.
    In Reynes wird am siebzehnten Geburtstag eines Jungen - dem Tag, an dem er volljährig wird - dem Brauch nach ein großes Fest abgehalten. Um den Schein zu wahren, musste man auch zu meinen Ehren eines geben. Es wurde wohl nie ein Empfang mit weniger Wärme und Freude vorbereitet - niemals habe ich solchen Schmerz auf dem Gesicht meines Vaters gesehen wie damals, als er die Gästeliste zusammenstellte. Man ließ Wein von einem nahen Gut kommen …
    An jenem Abend saß meine Familie am Tisch, also meine Eltern und zwei meiner Cousins, daneben noch die Pächter aus dem Dorf und zwei Adlige aus der Umgebung und ihre Töchter. Die Adligen und die Pächter taten ihr Bestes, das Gespräch am Leben zu erhalten, sprachen über die Ernten, das Wetter, den Haferhandel, aber mein Vater sagte kein Wort. Meine Mutter tat wie gewöhnlich, als ob ich nicht existierte. Als das Fleisch aufgetragen wurde, begann mein
Vater zu trinken; ich auch. Schließlich war ich siebzehn Jahre alt, ich war zum Mann geworden. Und welch besseren Augenblick hätte es gegeben, Vergessen zu

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