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Rune der Knechtschaft

Titel: Rune der Knechtschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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    Wir tranken viel - o ja, sehr viel. Die Atmosphäre war so drückend, dass ich das tun musste, um das Abendessen zu überstehen, und mein Vater dachte wohl das Gleiche. Dann wurde der Nachtisch serviert, und mein Vater stand auf, das Glas in der Hand.
    ›Auf meinen Sohn‹, sagte er. ›Auf meinen Sohn, der meinen Besitz, mein Vermögen, meine Ländereien, meine Felder und meine Kornspeicher erben wird. Auf meinen Sohn, der Euch alle‹ - er wies auf die Pächter - ›erben und Euer Schicksal bestimmen wird, das Eurer Frauen, das Eurer Kinder … An Eurer Stelle würde ich gut auf die Kinder aufpassen.‹<
    Totenstille senkte sich herab, und er fuhr fort: ›Was für ein Glück hat der Vater, der seinen Namen und sein Gut einem Erben hinterlassen kann, der dessen würdig ist. Und wer wäre dessen wohl würdiger als jemand, der im Schatten seit seiner zartesten Kindheit Ränke geschmiedet hat, um alles zu erhalten? Ich fordere Euch also auf, mit mir auf die Gesundheit der Schlangenseele zu trinken, die in diesen Mauern herumkriecht, auf den Fuchs, der hilflose Wesen erbeutet. Auf meinen Sohn Arekh!‹<
    Niemand trank. Die Gäste sahen einander an und zögerten; sie wussten nicht, was sie tun sollten. Mein Vater schwankte; seine Augen waren blutunterlaufen. Ich stand auf und ging um den Tisch herum zu ihm hinüber. Ich musste handeln, sonst wäre ich verrückt geworden. Ich ertrug diese Anspielungen nicht länger, diesen verhüllten Hass und dieses Schweigen. Er sollte es aussprechen, er sollte mich ein für alle Mal als Mörder bezeichnen. Er sollte dieses Wort aussprechen, das er noch nie ausgesprochen
hatte. Und außerdem brachte der Alkohol mein Blut zum Kochen. Er sah mich kommen, und ich beleidigte ihn, ich warf ihm alle möglichen Schimpfwörter an den Kopf, ohne jedoch ausdrücken zu können, was mir das Herz zusammenzog. Dass ich unschuldig war, dass ich meinen Bruder nicht getötet hatte, dass es ein Unfall gewesen war … Ich wusste, dass meine Worte, wenn ich sie ausgesprochen hätte, falsch geklungen hätten, obwohl sie wahr waren, und es schien mir, als hätten all diese Jahre meine Seele geschwärzt und als spürten alle am Tisch das. Mein Vater schlug mich sehr heftig - zum ersten Mal -, und ich nannte ihn einen Lügner. Da spuckte er mir ins Gesicht … Ich packte sein Schwert, das auf dem Tisch lag, und tötete ihn.«
    »Große Götter …«, hauchte Marikani, die sich nicht gerührt hatte.
    »Meine Mutter warf sich mit einem hasserfüllten Schrei auf mich, und ich tötete auch sie: Ich führte instinktiv einen Schwerthieb, ohne es zu wollen, und sie fiel. Um den Tisch herum herrschte Chaos, die Gäste schrien oder flüchteten. Manche warfen sich auf mich, und ich schlug auch auf sie ein, während ein Schleier aus Blut und Alkohol sich über meine Augen senkte. Überall lagen Leichen. Die Überlebenden rannten ins Freie, und ich fand mich allein in dem Raum wieder, während die Diener in der ganzen Burg Alarm schlugen. Ich wusste, dass ich nicht viel Zeit hatte. Also ging ich in den ersten Stock hinauf, wo die Truhe stand, in der mein Vater sein Geld und die wenigen Kleinodien unserer Familie aufbewahrte. Ich stahl alles und brach dann auf.
    Danach … danach irrte ich monatelang durch die westlichen Königreiche, fern der Fürstentümer, unter einem angenommenen Namen, als junger, adliger Müßiggänger auf Reisen. Ich wurde nicht von Gewissensbissen zerfressen.
Das werde ich noch immer nicht. Die Erinnerung an diese Morde bedeutet mir nichts. Das Einzige, was mich noch immer berührt, ist der Anblick von Ires, dem Keiler, seinem Blut. Das Übrige … Ich sehe mich handeln, aber losgelöst, als würde ich eine Darstellung auf einem Buntglasfenster betrachten.
    Nach einigen Monaten begann ich unter der Untätigkeit zu leiden. Ich hatte keinen Rang mehr, keinen Stand, keinen Namen, aber ich verstand mich aufs Kämpfen und hatte eine hervorragende Erziehung genossen. Ich führte einige Aufträge im Sold eines Ratsherrn von Reynes aus, der Botschafter in Kiranya war. Ich überbrachte Nachrichten, bedrohte seine Feinde, schrieb Briefe für ihn, tötete einige missliebige Personen. Ich war so wirkungsvoll, dass er mich mit zurück nach Reynes nahm - und so wurde ich ein Mann der Schatten, ein Spion, Handlanger und gelegentlicher Meuchelmörder, der von Dienstherr zu Dienstherr wechselte. Das ging jahrelang so. Ich nahm bedeutende Summen ein, gab sie aber sofort wieder aus. Und dann überkam

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