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Rune

Rune

Titel: Rune Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Hodge
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Tradition herrschte unbarmherzig – die Erwachsenen schmausten an der Tafel im Eßzimmer, während wir Sprößlinge von einigen Klapptischen essen mußten, die man im Wohnzimmer aufgebaut hatte. Ich hatte den Verdacht, daß ich diese Klapptische nie hinter mir lassen würde. Ich könnte achtzig Jahre alt werden, und man würde mich noch immer an einen dieser verdammten Klapptische verbannen.
    Nachdem wir alle in kollektives Koma verfallen waren, wurden die Reste in Schüsseln gegeben, die Klapptische abgebaut und das Geschirr gespült.
    Und dann wurde die Geschlechtertrennung wieder aufgenommen, als Dad und James sich wegen des Footballspiels vors Fernsehen zurückzogen. Etwas später ging ich durch die Küche und erwischte Paula mitten in einem Gespräch über ihre Sterilisation. Sie schwieg, bis ich vorbei war. Normalerweise hätte ich wohl an der nächsten Ecke Halt gemacht, um zu lauschen.
    Doch nicht heute.
    Ich sperrte mich ins Badezimmer im ersten Stock und schaltete die Belüftung an, um den Lärm von draußen zu übertönen. Ich setzte mich auf den Boden, mit dem Rücken gegen die Duschkabine. Die Einsamkeit war ein Segen, das stete Brummen der Belüftung ein geistloser Trost.
    Vielleicht war es ein Fehler, sich diesen Tag zuzumuten.
    Ich kauerte mich auf den Boden und schloß die Augen, schlief nicht, schwebte aber in einem Dämmerzustand.
    Laß diesen Tag bitte vorbeigehen …
    Hier, wo es sicher, warm und abgeschlossen war, bedeutete die Zeit nichts. Ich hätte hinter dieser Tür bleiben können, bis draußen das Gras übers Dach gewachsen und mein Auto nur noch ein Haufen Rost war.
    Laß einfach alles vorbei sein.
    Schließlich ging ich doch wieder, bereit, die Menschen zu ertragen. Als ich durch die Küche kam, meckerte Tante Molly über meine Haare (ich hatte nie den von Mom gewünschten Schnitt erhalten), und ich konnte mich gerade noch zurückhalten, ihr nicht ein Kompliment dafür zu machen, daß sie ihre in einem Orangeton gefärbt hatte, von dem ich bislang nicht einmal gewußt hatte, daß es ihn überhaupt gab.
    Aber Paula übernahm das für mich, und ich zog mich ins Wohnzimmer zurück. Bald brachte Dad einige Flaschen Löwenbräu mit. Eine für sich, eine für James, für mich, für Aaron. Ich hatte gehofft, sie wären alle für mich.
    Ich glaube nicht, daß es bislang einen Feiertag gab, in dessen Verlauf Dad nicht mindestens einmal eingeschlafen wäre. Die knisternde Wärme des Feuers, das weiche Sofa, das schwere Essen, gefolgt von einer Flasche Bier, und dazu die relativ neue Bürde eines geschwächten Herzens – das war bald alles zu viel für ihn, und er schlief mit leicht geöffnetem Mund ein. Andererseits konnte das aber auch eine kluge Selbstverteidigungsstrategie sein, um eine Weile Onkel James zu entgehen.
    »Der fängt Fliegen«, sagte James und wies auf Dad. Dann sah er mich grinsend an, als wolle er sagen: He, Kumpel, laß uns ein bißchen reden. Nur du und ich. »Sag’ mal, Chris. Wie war das gestern eigentlich? Dem Tod ins Gesicht zu blicken?«
    Ich spielte mit der leeren Löwenbräuflasche und wirbelte den Schaum am Flaschenboden auf. »Es ist alles wie in einem Nebel.«
    »›Feiglinge sterben mannigfach vor ihrem Tod; der Tapf’re kostet einmal nur davon.‹« James runzelte seine gewaltige Stirn. »Wer sagte das noch gleich? Ben Franklin?«
    Ich wirbelte die Flasche heftiger.
    »William Shakespeare«, sagte Aaron sanft und ballte die Fäuste.
    Anscheinend hatte James ihn nicht gehört. »Wer auch immer, das ist nicht wichtig.« Er zuckte mit den Schultern und lächelte mich dann an. Ich verabscheute dieses Plastiklächeln mehr als je zuvor. »Weißt du, ich glaube, dein Mut kommt von unserer Seite der Familie.«
    Ich beruhigte meine Hände, indem ich sie um die Flasche legte. »Schau, ich war gestern nicht der einzige dort. Da war ein ganzer Raum voller Leute, die den Umständen entsprechend einen ziemlich kühlen Kopf behielten, und einer davon sitzt hier.« Ich wies auf Aaron. »Der hier hat mehr geleistet, als du dir vorstellen kannst.«
    Ein Holzscheit explodierte im Kamin, und Robbie und Paulas ältester Sohn sahen in unsere Richtung, vergaßen ihr Computerspiel. Meine Kehle zog sich zusammen, und unter dem Verband pochte die Hitze. Jubel erscholl aus dem Fernseher, doch niemand sah hin.
    Onkel James lachte mit dem Charme einer in die Enge getriebenen Ratte, ein hohes, zittriges Geräusch. »Natürlich, natürlich …« Er leckte sich die Lippen. »Aber, ähm, du

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