Rune

ich schließlich, und Aaron sah auf zu mir. »Wenn sie alle fort sind, sind wir ganz allein.«
    Aaron sah noch nicht einmal überrascht aus.
     
    Halb zwölf. Mom und Dad waren seit fünfzehn Minuten fort, und Aaron schrubbte sich unter der Dusche. Er hatte gesagt, er könne das Fritierfett auf seiner Haut spüren. Ich konnte das nachvollziehen. Manchmal war ich überzeugt davon, noch immer von Hürdenspringers Blut besudelt zu sein.
    Ich nahm den Hörer des Telefons in der Küche ab und wählte Phils Nummer. Er ging dran, und ich war dankbar für diese kleine Gunst des Schicksals. Ich hätte wohl nicht mit der Sorge seiner Mutter umgehen können.
    »Ich bin’s«, sagte ich.
    Eine Pause, schwanger von Erwartung. »Was ist los?«
    »Es geht heute los, glaube ich. Heute, heute nacht, wie ich vermute.«
    Er holte tief Luft. »Woher weißt du das?«
    »Familienkatastrophe. Niemand ist tot, aber … ich glaube, es ist nicht wirklich wichtig.« Logisch – sag das mal Robin. »Mom und Dad sind fort. Aaron und ich sind jetzt ganz allein.«
    Stille am anderen Ende.
    »Phil, du hast es mir versprochen. Also geh. Sobald du kannst.«
    Phil – loyaler Freund, treuer Chauffeur, Vertrauter und tausend andere Dinge – ließ einen schweren Seufzer vernehmen. »Es muß noch einen anderen Weg geben. Ich meine, ich habe dich noch nie im Stich gelassen.«
    Ich schloß meine Augen so fest, wie ich eine Faust geballt hätte. Hasse ihn, sagte etwas in mir, du mußt ihn jetzt hassen, denn das ist vermutlich der größte Gefallen, den du ihm je tun kannst.
    »Du willst mir einen Gefallen tun, Arschloch?« schrie ich in den Hörer. Ich stellte ihn mir mit Valerie vor, wie er hinter meinem Rücken mit ihr herummachte. Ich stellte ihn mir mit jedem Mädchen vor, das ich je gemocht hatte. Auf dem Rücksitz meines eigenen Autos. Ich hörte sie darüber lachen, was für ein Trottel ich doch sei, weil ich nie etwas geahnt hätte. Ich stellte mir vor, wie er mit dem Finger auf mich zeigte und lachte und mich einen Verlierer nannte, weil ich mir noch nicht einmal ein eigenes College hatte aussuchen können und ihm immer wie ein Hündchen folgte. »Verpiß dich gefälligst und laß mich von nun an in Frieden.«
    »Nein, warte, ich -«
    »Glaubst du wirklich, ich brauche dich?« fragte ich. »ICH BRAUCHE NIEMANDEN, DER SICH VON SEINEM EIGENEN VATER EINE NARBE AUF DEN RÜCKEN SCHLAGEN LÄSST!«
    Totenstille am anderen Ende, und ich haßte mich weit mehr, als ich Phil je hätte hassen können – selbst wenn jede dieser Phantasien wahr gewesen wäre.
    Ich stand so kurz vorm Heulen wie den ganzen Morgen noch nicht und tat die schwierigste Sache meines bisherigen Lebens. Ich hängte ein.
     
    Viertel nach vier. Dieser Nachmittag war einer der merkwürdigsten meines Lebens. Aaron und ich hatten uns im Haus gegen einen unsichtbaren Feind in unbekannter Gestalt verbarrikadiert. Wir hatten die Türen verriegelt, die Fenster überprüft, die Vorhänge zugezogen, sogar ein Feuer im Kamin gemacht. Und bislang keine Spur vom freundlichen Wikinger aus der Nachbarschaft.
    Aaron und ich hielten uns im Wohnzimmer auf. Wir saßen beide auf dem Boden mit dem Rücken gegen das Sofa. Auf der anderen Seite des Raumes waren die Glastüren, die auf die Veranda führten, und dort waren die einzigen Vorhänge, die wir nicht geschlossen hatten. Den Hinterhof konnten wir überblicken; dahinter war die Rückseite des Hauses in der Parallelstraße. Menschen mit einem netten, normalen Leben wohnten dort.
    Aaron wies auf den Fernseher. »Läuft was Gutes?«
    Ich zuckte mit einer Schulter. »Weiß nicht.« Ich sah wieder auf die Uhr. Fast hätte ich es vergessen. »Auf dem College würde sich jetzt alles versammeln, um Leave It To Beaver zu schauen.«
    »Dafür also geben Mom und Dad ein Vermögen aus«, sagte er, und wir beide lachten, wenn auch nervös und scharf. Zu einem anderen Zeitpunkt, den wir beide vermißten, weil unsere damaligen Sorgen so nichtig waren, hätte Aaron das wohl gehässig kommentiert. Doch nicht heute. Wir waren zwei Seelen, die zu einer wurden.
    Wir sahen zu, wie sich draußen das Sonnenlicht langsam und unausweichlich trübte; der Himmel wurde immer dunkler, und das Grau des Novembers färbte sich zu tiefstem Blau. Nach und nach wurden die Schatten länger und tiefer. Diese Schatten konnten vieles verbergen. Bald würden wir auch diese Vorhänge zuziehen müssen. Dann hätten wir nicht mehr den Vorteil des Überblick.
    »Weißt du«, sagte Aaron nach