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Rune

Rune

Titel: Rune Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Hodge
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allein wohnen konnte.
    Ich erinnerte mich an Rick in einer fernen Nacht, wie verletzt er ausgesehen hatte, weil Phil ihn auslachte. Ihn auslachte, weil er behauptet hatte, etwas gesehen zu haben – es sah irgendwie wie ein Bär aus.
    Als ich zusah, wie diese Erscheinung wie ein menschlicher Wirbelsturm die Hügel hinabpreschte, fand ich Ricks Äußerung mit einem Male nicht mehr so unglaubwürdig.
    Die Pferdehufe erreichten ein Crescendo, und der Reiter brüllte im Siegestaumel, als sie den Himmel verfinsterten. Die Axt wurde zum letzten Schlag hoch erhoben.
    Und ich schrie.
     
    Ich erwachte auf dem Boden, und idiotischerweise griff ich als erstes nach meinem Kopf. Er war noch dran. Hätte ich etwas anderes erwarten sollen?
    Ich setzte mich noch nicht auf; statt dessen blickte ich in einen warmen, blauen Himmel, der fast wolkenlos war. Ein einmotoriges Flugzeug brummte in weiter Entfernung, und dies war mein erstes Zeichen der Wirklichkeit des zwanzigsten Jahrhunderts.
    Ich entschloß mich, diese Gelegenheit zu nutzen, setzte mich auf und schaute mich um. Mein Auto war zurück, genau an der Stelle, wo ich es abgestellt hatte. Der Teich kräuselte sich unter einer leichten, warmen Brise. Bewaldetes Gebiet erstreckte sich um mich, doch nun war es wieder flach.
    Idyllisch. Wie oft hatte ich das von Tri-Lakes gedacht? Oh, aber äußere Erscheinungen können so täuschend sein, wie bei einem Mann, der Jahrelang ein ruhiges und konstantes Leben führt, der zurückhaltend ist, den jeder schätzt, der niemandem zur Last fällt – und der eines Nachmittages nach Hause geht, um erfolgreich und kaltblütig seine gesamte Familie auszulöschen.
    Ich stand auf und ging leicht schwankend auf mein Auto zu. Mein früherer Zorn war verraucht, und Tri-Lakes wußte es wohl.
    Ich konnte es nicht schlagen, so viel war mir klar. Ich würde vermutlich genug damit zu tun haben, zu überleben. Und das würde ich mit allen Mitteln versuchen. Wenn es auch hieß, wegzulaufen.
    Ich startete den Wagen. Hob meinen Kopf, bevor ich wegfuhr.
    »Wenn du mich willst«, sagte ich, »dann mußt du mich jagen.«
    Denn nun hatte ich sein Gesicht erkannt. Oder zumindest das Gesicht, das es mir zeigen wollte. Ein Gesicht, das seit Jahrhunderten niemand mehr erblickt hatte. Ich hatte genug Holzschnitte, Zeichnungen und sogar Filme gesehen. Ich hatte gerade das Gesicht eines Wikingers erblickt.

18.
     
    Weitere Wochen verstrichen, und Rick tauchte nicht auf. Nicht, daß ich es erwartet hätte: Ich gewöhnte mich langsam an die Vorstellung, ihn nie wiederzusehen. Es war der schlimmste Schmerz, doch ich nahm ihn an.
    Offenbar auch seine Eltern. Sie wollten eine Trauerfeier für ihn. Viele Menschen sagten ihnen, sie sollten noch Geduld haben, Rick würde bald auftauchen, wartet einfach ab. Doch sie taten es trotzdem. Vielleicht wollten sie es tun, bevor die meisten vergessen hätten, daß es je einen Rick Woodward gegeben hatte. Oder zumindest so tun würden.
    Der Gottesdienst fand am Nachmittag des letzten Samstags im Juli statt, in der Methodistenkirche, der die Woodwards angehörten. Ein Haufen Leute erschien, viele Jugendliche aus der Schule. Rick war ein Einzelkind, doch die Woodwards saßen in der Vorderreihe mit anderen Mitgliedern der Familie, von denen ich einige im Laufe der Jahre kennengelernt hatte. Seine Mutter und sein Vater schienen sich gut zu halten, doch vermutlich hatten die vergangenen Wochen ihnen auch viel Übung darin vermittelt.
    Ich saß in der dritten Reihe, mit Phil und Connie zu meiner Linken und Aaron zu meiner Rechten. Auch unsere Eltern waren gekommen, doch sie standen irgendwo hinten in der Menge.
    Klagende Musik drang aus der Orgel, während die Leute ihren Platz einnahmen. Langsame Musik, finster und niederschmetternd.
    »Rick würde das nicht gefallen«, flüsterte Phil mir ins Ohr.
    »Ich weiß.« Ich zupfte an meinem Kragen; Krawatten würgten mich immer. Und trotz der Klimaanlage der Kirche schwitzte ich unter meinem Jackett.
    Phil lächelte traurig. »Ich wette, Rick hätte lieber ein Besäufnis zu seinen Ehren.«
    »Ich wette, daß du recht hast.« Für manchen mag sich das vielleicht kraß anhören, doch mir schien das weit sinnvoller, als alle für einen bedrückenden Nachmittag zusammenzupferchen und dann todtraurig nach Hause zu schicken.
    Nachdem die Orgel verstummt war, begann der Gottesdienst. Eine junge Frau aus der Gemeinde sang eine bittersüße Ballade, wobei sie sich auf einer Akustikgitarre begleitete, was

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