Rune
jedem Schlag größere Stücke heraus.
Ich fühlte mich dabei, als würde ich Ricks Grab schänden. Ich sah nicht hin. Ich hieb und hackte …
27.
Das Seltsame an dem Schmerz, jemanden zu verlieren, ist der Zyklus der Gefühle. Zumindest ging es mir so mit Rick.
Es gab Tage tiefster Niedergeschlagenheit, die von Zeitspannen gefolgt wurden, in denen ich dachte, ich käme nun darüber hinweg. Es schien, daß jedes Mal, wenn ich eine kleine Mauer zwischen mir und jener Nacht aufgebaut hatte, etwas kam und sie einriß und seine Krallen fröhlich in meine Eingeweide schlug.
Doch nichts hätte mich auf die Gefühle vorbereiten können, die mich in einer Nacht Anfang Oktober wie ein Schnellzug trafen. Phil, Greg, Ashley und ich fuhren in meinem Auto hoch nach Chicago, um ein Konzert von Van Haien zu besuchen. Mit Sammy Hagar in der Besetzung gingen sie zwar immer noch voll ab, trotzdem vermißten wir David Lee Roth. Ein jeder ist unersetzlich. Die Karten hatten wir schon seit einem Monat, und es war uns egal, ob wir am nächsten Tag zu kaputt sein würden, um den Unterricht zu besuchen. Wir wußten, wo unsere Prioritäten lagen.
Und doch mußte ich inmitten der schreienden Masse, umzüngelt vom Rauch der Zigaretten und des Hasches, ein paar Tränen vergießen, als ich eines von Ricks Vorbildern vor Augen hatte. Denn in Eddie Van Halen – dünn, langhaarig, hoffnungslos energiegeladen und für die Bühne geboren – sah ich, was Rick seit jeher hatte erreichen wollen. Das hätte mit viel harter Arbeit und nicht wenig Glück aus ihm werden können.
Ein- oder zweimal im Leben trifft man auf jemanden, bei dem man erkennt, daß er zur Größe bestimmt ist. Sie können dem nicht entgehen. Sie haben sowohl das Talent als auch den Antrieb, es an ihre Grenzen und darüber hinaus zu bringen. Viele Menschen haben das eine oder das andere, doch die Rick Woodwards dieser Welt sind die Ausnahmen, die das eine mit dem anderen verbinden können. Ich war natürlich voreingenommen, doch tief im Innern war ich mir sicher, daß er es geschafft hätte. Da er nun fort war, würden seine unerfüllten Träume mich für immer belasten. Ich konnte sie nicht verwirklichen. Ich hatte die Gitarre, aber das war alles. Für mich jedoch war das vermutlich genug.
Und so war ich auf dem Rückweg nach Bloomington nicht in sonderlich guter Stimmung. Was mich nicht davon abhielt, Rum in mich zu schütten. Nur der Betäubung wegen, nicht aus Spaß. Spaß war das Gebiet der anderen. Phil hatte einen halben Liter Wodka getrunken, Greg hatte seine Pfeife und Ashley seinen Gin.
»Klingeln euch auch so die Ohren wie mir?« fragte Ashley auf dem Rücksitz. »Das war wohl das lauteste Konzert, auf dem ich je gewesen bin.«
Wirklich – die Lautstärke konnte nur als umwerfend beschrieben werden.
Greg schnarchte beim Schlafen. Er saß auf die eine Seite des Rücksitzes geneigt wie der schiefe Turm von Pisa. Neben ihm stand die leere Pfeife, und seine Hände umklammerten lose eine halbleere Tüte Chips. Sein Mund war weit geöffnet, und dieses schreckliche gelborange Zeug umgab seine Lippen und sein Kinn wie ein unheimlicher Fall von Gelbsucht.
»Wie weit ist’s noch bis Bloomington?« fragte Ashley.
»Noch ungefähr vierzig Meilen. Hast du’s eilig?«
»Es ist nicht lustig, hier hinten mit einer Leiche zu sitzen. Ich bin nicht nekrophil.« Dann grinste er und zog einen Chip aus Gregs Tüte, um ihn damit unter der Nase zu kitzeln. Gregs Arm zuckte zum Gesicht, und er babbelte leise in einer seltsamen neuen Sprache. Ashley kicherte. »Wie ist es, mit diesem katatonischen Wrack zusammenzuleben?«
»Es geht schon«, sagte ich und stellte die Heizung auf die niedrigste Stufe. Die Nächte fingen an, kühl zu werden. »Wenn man davon absieht, daß er der einzige Typ ist, den ich kenne, der im Schlaf furzen kann.«
»Nein!« rief Phil, während Ashley in schallendes Gelächter ausbrach.
»Das stimmt«, sagte ich. »Wenn ich noch an meinem Schreibtisch sitze und lerne, während er schon schläft, höre ich diese kleinen, fliehenden Winde. Richtig derb.«
»Das ist zuviel!« lachte Ashley. »Zuviel!«
Greg kam zu sich, und die Chipstüte raschelte empört. »Das hab’ ich gehört«, murmelte er. »Ich furze nicht im Schlaf, niemals.«
»Zur Hölle, natürlich tust du das. Warum, glaubst du, schlafe ich immer noch bei offenem Fenster? Es riecht dann, als wäre etwas in deinen Arsch gekrochen und dort gestorben.«
Phil und Ashley lachten sich halb tot,
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