Rune
beenden und zu Erntedank nach Hause fahren zu können. Am nächsten Tag hatte ich einen Test in Wirtschaftslehre. Manche Lehrer setzen einem am liebsten zur Ferienzeit die Daumenschrauben an.
Es dauerte keine zehn Minuten, bis das Telefon klingelte.
»Na endlich«, sagte Shelly. »Ich versuche schon den ganzen Nachmittag, dich zu erreichen.«
»Weißt du, ich habe ja noch andere Sachen zu tun«, sagte ich leichthin.
Ein verschluckter Seufzer am anderen Ende der Leitung. »Dann hast du es also noch nicht gehört.«
Ich schloß die Augen und fühlte, wie mir der Boden unter den Füßen wegglitt, weil ich wußte, daß schlechte Nachrichten auf dem Weg waren. »Was?«
Sie erzählte mir von Mitch Gainer und Mary Harlow. Nachdem sie mit all den hübschen Einzelheiten fertig war, hatte ich das Gefühl, daß mein Abendessen nach dem Notausgang suchte.
»Und alles bei Tri-Lakes«, sagte sie mit einem schwachen Zittern in der Stimme. »Chris, es macht mir langsam angst.«
Mein Bauch plagte mich mit Krämpfen. »Und beide waren sie mit meinem Bruder befreundet. Genau wie Bobby Dennison. Das ist kein Zufall. So eine Scheiße.«
»Chris, es tut mir leid.«
»Hör mal, ich muß meinen Bruder anrufen, sofort. Wenn du noch etwas hörst, ruf mich an. Egal, zu welcher Zeit.« Ich drückte die Gabel runter und wählte dann die Nummer von daheim. Ich bemerkte, daß ich zitterte.
»Hallo?« Moms Stimme, alles andere als gefaßt. »Aaron, bist du’s?«
Aaron? AARON? Es kann doch nicht schon zu spät sein … »Nein, Mom, ich bin’s, Chris.« Ich atmete tief ein. »Was ist mit Aaron?«
»Wir vermuten, daß er weggelaufen ist. Du hast es vermutlich noch nicht gehört, aber -«
»Die Sache mit Mitch und Mary, ja. Ich hab’s gerade gehört. Eine Freundin hat mich angerufen. Deswegen wollte ich ja auch mit ihm sprechen.«
Mom stand hörbar nah vor den Tränen. »Er ist heute mit meinem Auto zur Schule, weil ich nicht zur Arbeit mußte. Und er hat gewußt, daß ich mir mit Marcia von nebenan Häuser ansehen würde, weil sie umziehen. Und als ich wieder heimkam, wußte ich, daß Aaron hier gewesen ist … Ich weiß immer, wenn einer von euch beiden hier war, wenn ich fort bin. Aber er ist nicht zurückgekommen. Und nachdem ich das mit den beiden Kindern gehört habe, sah ich in seinem Zimmer und seinem Schrank nach. Chris, einige seiner Kleider fehlen, und auch sein Schlafsack und eine Decke … auch seine Zahnbürste ist weg. Chris, er ist fortgelaufen!«
Guter Junge, Aaron, dachte ich. Halte dich fern davon.
Sie hörte sich an, als stünde sie kurz vorm Zusammenbruch, als wären alle Kraftreserven nun erschöpft. Ich hätte da sein sollen, um sie zu stützen. »Chris, hat das etwas mit dem zu tun, was seinen Freunden passiert ist? Gibt es etwas, was du geheimhältst? Hat er irgendwas damit zu tun?«
»Oh nein, Mom, nein.« Doch das war größtenteils eine Lüge, nicht wahr? »Für mich hört sich das an, als hätte er Furcht. Als hätte er viel darüber nachgedacht, als wüßte er, was er tut.« Ich hielt inne. »Was ist mit Dad? Ist er zuhause?« Und Gott, wie kommt sein Herz damit zurecht?
»Nein, er fährt die Gegend ab, falls es irgendeine andere Erklärung dafür geben sollte und wir umsonst die Wände hochgehen. Und wir haben die Polizei benachrichtigt. Sie haben gesagt, sie würden Ausschau nach dem Auto halten.«
»Ich kann in einigen Stunden da sein, wenn du willst.«
»Nein, Chris«, sagte sie rasch. »Bleib’ dieses Mal oben. Es gibt nichts, was du tun könntest.«
»Wenn du meinst. Aber ruf mich an, sobald du etwas hörst. Ich werde sonst hier oben wahnsinnig.«
»Du weißt, daß ich das tue.« Sie schwieg für einen Moment. »Ich liebe dich, Chris.«
»Ich dich auch, Mom. Bis dann.« Ich hielt den Hörer noch einige Sekunden, nachdem ich sie auflegen gehört hatte, und knallte ihn dann auf die Gabel. Was nicht viel brachte. Ich wollte auf etwas einschlagen. Doch mehr als alles andere wollte ich bei Aaron sein, um ihm zur Seite zu stehen und ihm nach Möglichkeit zu helfen. Mit ihm zusammen dem gegenüberzutreten, das uns beide gezeichnet hatte. Das uns den Boden unter den Füßen wegzog. Denn waren erst alle fort … dann standen wir auf der Liste.
Ungefähr um halb zwei in dieser Nacht wurde ich so ruckartig wach, daß mein Kopf schmerzte. Das Unterbewußtsein hatte wieder einmal seine wunderbare Problemlösung zur Anwendung gebracht. Ich wußte, wo Aaron sein könnte. Und es stand außer Frage,
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