Runen
Diese Luft konnte sie vor dem sicheren Tod retten. Zumindest fürs Erste.
Melkorka schraubte das Ventil der Sauerstoffflasche zu, stand vorsichtig auf und watete auf ihren Taucherflossen über den rauen und dennoch teilweise rutschigen Boden der Kluft so weit aus dem Wasser, bis es ihr nur mehr bis an die Fersen reichte. Dann zog sie die Taucherflossen von den Füßen, nahm die Flaschen und das Atemgerät ab, legte sich rücklings auf den nassen Boden und atmete durch.
Sie war wie ausgewrungen.
Während sie so neue Kraft zu schöpfen versuchte, wirbelten Fragen durch ihren Kopf.
Waren das wirklich Runenzeichen gewesen, was sie am Eingang in die eben durchtauchte Kluft gesehen hatte? Oder hatte sie sich nicht doch selbst etwas vorgemacht?
Wenn es tatsächlich Runen waren, war es dann wirklich ein Hinweis darauf, dass ihr Großvater recht gehabt hatte mit seiner Interpretation von Gotatýrs Runenlied? War Óðinns und Þórs Iðavöllur tatsächlich in der Unterwelt Islands |360| zu finden? Wirklich und wahrhaftig unter dem weihevollen Boden, den Ziegenschuh-Grímur als Versammlungsplatz für das Althing, die Versammlung aller freien nordischen Landnehmer, im Jahre 930 ausgewählt hatte?
Melkorka trank das kalte Wasser aus der hohlen Hand, um den brennenden Durst zu löschen. Es war klar und erfrischte sie.
Der felsige Untergrund der Gebirgskluft bildete eine schräg ansteigende Ebene vor ihr. Melkorka konnte aber in der Dunkelheit nicht feststellen, wie weit sich dieser Anstieg erstreckte und wo er endete. Das Wasser sprudelte ihr in zwei Bächen entgegen. Sie flossen in zwei Rinnen, die das Wasser im Laufe der Zeit in das Gestein gegraben hatte. Es gab nur einen Weg, um das Ende der Kluft zu finden: dem Anstieg zu folgen, in die vor ihr liegende Dunkelheit hinein.
Melkorka schätzte den verbliebenen Sauerstoffvorrat in ihrer Flasche als noch ausreichend für eine etwa zehnminütige Tauchstrecke. Sie einfach zurückzulassen, erschien ihr als zu riskant. Daher schnallte sie sich ihre Ausrüstung wieder um, nahm die Flossen und ihr Atemgerät in je eine Hand und stapfte zwischen den beiden Bächen los.
Immer wieder rutschte sie auf glitschigen Felspartien aus, rappelte sich wieder auf und ging unverdrossen weiter, bis sie die Höhlendecke erkennen konnte, die ihr mit jedem Schritt näher kam.
Schließlich musste sie sich tief bücken und fast verrenken, um sich den Kopf nicht an dem scharfkantigen Lavagestein zu stoßen. Am oberen Ende des Anstiegs in der Kluft betrug der Abstand zwischen der Decke und dem Boden höchstens einen Meter. Dort fiel das Wasser, das |361| sich mittlerweile zu einem breiten Höhlenbach vereinigt hatte, gemächlich über eine niedrige Felskante.
Auf allen vieren kroch Melkorka durch das sprudelnde Wasser, bis sie den Kopf aus der Kluft strecken konnte. Sie blickte in eine weite, von dämmrigem Licht erfüllte Höhle. Sie schien sehr lang, breit und hoch zu sein. Das Licht kam von einem hellen Schein in der Ferne. Eine sonderbare Helligkeit lag über der stillen Höhlenwelt.
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Auf allen vieren kroch Melkorka durch den munter plätschernden Wasserfall, richtete sich auf und machte ein paar Schritte in die weitläufige Lavahöhle hinein.
Der Widerschein des hellen Lichts, das am Nordende des hallengleichen Raums strahlte, brachte lange Schatten an den Dutzenden, wenn nicht Hunderten von Lavastalaktiten hervor, die von der Höhlendecke herabhingen. Einige von ihnen waren mehrere Meter lang.
Kein Zweifel. Sie hatte die enorme Höhle gefunden, die das alles durchdringende Auge des amerikanischen Satelliten unter der Oberfläche von Þingvellir ausgemacht hatte. Vor ihr wölbte sich der vor Nässe glitzernde Höhlenboden zu einem weiten, steilen Buckel auf. Jenseits davon gleißte das eigenartige Licht. Zweifellos war es auf den Satellitenbildern als die Wärmequelle detektiert worden.
Das einzige Geräusch, das sie in dem unheimlichen Gewölbe vernahm, war das Plätschern fließenden Wassers, das über den gesamten Höhlenboden rann. An der westlichen Wand sammelte es sich in einer tiefen Rinne, die es sich im Laufe endloser Zeiträume geschaffen hatte. Dort floss es als Höhlenbach nach Süden ab und wurde schließlich von der breiten Kluft verschluckt, durch die Melkorka heraufgekommen war.
Sie wartete einen Moment ab, um ihre innere Ruhe wiederzuerlangen. |363| Sie überlegte, wie Alan Sexton wohl reagiert haben mochte, als Jack Powell allein zurückgekehrt war. Hatte er
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