Runen
zauberhafte Schönheit der Landschaft auch nur zu bemerken.
Er weigerte sich schlicht, daran zu glauben, dass Melkorka Island im Privatjet mit J. R. Melville und den Brownwater-Leuten verlassen haben sollte.
»Sie wäre niemals freiwillig mit diesen Leuten gegangen, ohne mir vorher Bescheid zu sagen«, sagte er überzeugt.
»Der Pick-up steht hier noch«, stellte Erna fest.
Sie lief zu dem offenen Bootsschuppen und schaute hinein. Da waren aber weder Boote noch die dazugehörige Besatzung zu sehen. Kári folgte ihr.
»Wo sind die Schlauchboote hin, die du hier gesehen hattest?«, fragte er. »Die werden sie ja wohl nicht mitgenommen haben.«
»Melkorka könnte natürlich noch auf Tauchstation sein, obwohl Melville das Land verlassen hat«, überlegte Erna.
Sie ging zu dem grasbewachsenen Seeufer hinunter und kniff die Augen zusammen, um auf dem Wasser draußen etwas zu erkennen. Eine östliche Brise löste die Morgennebel allmählich auf.
»Ist das da westlich von Sandey nicht ein Schlauchboot?«, fragte Erna.
|371| Kári fand im Schuppen eine Aluminiumleiter, lehnte sie an die Hauswand und stieg hinauf. Von dort hatte er eine bessere Aussicht über die Bucht und den See.
»Doch. Da sind zwei Schlauchboote dort draußen, und ich sehe in einem davon Leute sitzen«, rief er und sprang von der Leiter herunter. »Wir brauchen ein Boot. Wo kriegen wir jetzt ein Boot her?«
Erna zückte ihr Handy, und in kürzester Zeit hatte sie ein Boot aufgetrieben, mit dem sie auf den See hinausfahren konnten. Ein guter Bekannter von ihr, Biggi Dóra, hatte ein Sommerhaus im nahe gelegenen Heiðarbeir. Er besaß ein Boot mit Außenborder, mit dem er regelmäßig zum Angeln hinausfuhr. Er brachte Kári und Erna zu den beiden Schlauchbooten.
Als Erna den beiden Männern ihre Polizeimarke zeigte und sie nach Melkorka fragte, verschlossen sich die Mienen der beiden spürbar.
»Sie tauchen noch«, antwortete der eine.
»Wer ›sie‹?«, kam es von Kári zurück.
»Alan, Jack und die Isländerin«, erwiderte Jake.
»Haben Sie irgendwas von ihnen gehört?«
»Alan hat uns vor achtundsechzig Minuten das letzte Signal geschickt.«
»Und wo waren sie da?«
»In der Höhle.«
»Haben sie genügend Sauerstoff mit?«
»Ja, ich glaube schon. In der Höhle sind auch Reserveflaschen.«
»Einer von Ihnen beiden muss auf der Stelle hinuntertauchen und nachsehen, was los ist«, befahl Erna.
»Oder Sie beide«, fügte Kári hinzu.
|372| »Alan Sexton hat uns aber aufgetragen, im Boot zu warten«, entgegnete der andere.
»Und wir benachrichtigen die Bergwacht, falls Sie es nicht tun. Dann wimmelt es hier bald nur so vor Publikum«, erklärte Erna. »Glauben Sie, dass das Ihrem Chef lieber wäre?«
Die beiden Männer sahen einander an.
»Okay«, gab der eine nach und stand auf.
Kári und Erna standen gerade aufrecht in dem kleinen Boot, als das Erdbeben kam. Die Dünung, die den Þingvallavatn aufwühlte, hob das kleine Boot so unvermittelt an, dass Kári das Gleichgewicht verlor und auf die Ruderbank fiel. Erna konnte sich gerade noch halten.
»Was war das denn jetzt?«, fragte Kári und stand auf.
»Ein Erdbeben«, klärte ihn Biggi Dóra auf. »Hier gibt es immer wieder kleinere Erdstöße. Aber der hier war schon ganz ordentlich.«
Dem einen Amerikaner gefiel das ganz und gar nicht.
»Es ist doch heller Wahnsinn, bei Erdbeben in einer Höhle zu tauchen«, meinte er.
»Das Beben ist im Gegenteil noch ein Grund mehr für Sie, sofort runterzugehen und nach Melkorka zu sehen«, entgegnete Kári.
»Alan Sexton und Jack Powell könnten Ihre Hilfe auch gut brauchen«, ergänzte Erna.
Der zweite Mann fuhr mit seinen Vorbereitungen für den Tauchgang fort, als sei nichts passiert.
»Mach hier nicht auf Weichei«, wandte er sich an seinen Kollegen. »Es kann sein, dass Alan und Jack da unten tatsächlich in Schwierigkeiten sind.«
Erna rief die geophysikalische Abteilung des isländischen |373| Wetterdienstes an, um sich nach dem Erdbeben zu erkundigen. Sie erfuhr, dass es die Stärke 3,6 auf der Richterskala erreicht hatte. Der Herd wurde unter dem Berg Ármansfell lokalisiert, knapp nördlich des Þingvallavatn.
Kári schaute zu, wie sich die beiden Männer rücklings in die Fluten fallen ließen und in der Tiefe verschwanden. Er versuchte sich auszumalen, wie es seiner Frau wohl gehen mochte, da unten in der bebenerschütterten Unterwelt.
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Obwohl der Brunnen sein zerfetztes Opfer Melkorka und Sexton direkt vor
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