Runen
versucht, den schmalen Höhleneingang zu öffnen, den sein Kollege durch die Sprengung verschüttet hatte? Oder wusste er, was los war, und hatte sie ganz bewusst in ihrem Unterwassergefängnis eingeschlossen zurückgelassen?
Sie erwog, wieder die westliche Route zurückzutauchen, obwohl es alles andere als sicher war, dass der Sauerstoff in der Flasche für diese Strecke reichte.
Aber zuvor musste sie sich das Licht am nördlichen Ende der Halle genauer ansehen.
Die ersten drei- bis vierhundert Meter waren äußerst steil. Der sonst lavaraue Untergrund war hier stellenweise glitschig und schwierig zu begehen. Melkorka wagte es außerdem nicht, Taucherflasche, Atemgerät oder Flossen zurückzulassen; das machte das Hinaufklettern nicht gerade einfacher. Deshalb kam sie nur sehr langsam vorwärts. Schließlich aber erreichte sie die obere Kante, wo sie sich einen Moment erholen konnte.
Das gleißende Licht mochte sich noch in etwa zweihundert Metern Entfernung befinden. Es kam ganz deutlich aus dem felsigen Boden. Dort war eine Art Loch. Oder – ein Brunnen.
Sie wusste keine Erklärung für diesen überhellen Glanz. Angst kroch sie an, dass es womöglich der Widerschein weißglühender Lava aus den Tiefen der Erde sein könnte.
Dann bemerkte Melkorka zwei Schatten vor dem Licht. Sie erkannte sie sofort.
Alan Sexton und Jack Powell.
Sie zögerte, sich ihnen zu nähern. Die Tatsache, dass |364| sie dort beieinanderstanden, war ein deutliches Zeichen dafür, dass Powell nur den Befehl seines Chefs ausgeführt hatte, den Höhleneingang zu sprengen. War dieser Schluss richtig, dann wollten beide Männer sie tot sehen.
Melkorka nahm die Taucherflasche von den Schultern und lehnte sie gegen einen Stein, der etwa einen halben Meter über dem Höhlenboden aufragte. Das Atemgerät und die Flossen befestigte sie an der Flasche. Dann schaute sie wieder zu dem grellen Lichtschein hinüber und nahm allen Mut zusammen. Davonlaufen war das Letzte, was sie wollte. Auch vor einer offensichtlichen Übermacht nicht.
Die beiden Amerikaner standen einige Meter vom Rand des Brunnens entfernt und schienen in eine lebhafte Diskussion vertieft. Zu ihrem Erstaunen sah Melkorka nirgends Wasser aus der kreisrunden Öffnung zutage treten, deren Durchmesser sie auf drei bis vier Meter schätzte. Das Wasser, das über den Höhlenboden rann, kam wohl aus anderen dunklen Winkeln der Höhle.
Jack Powell näherte sich dem Brunnen mit langsamen Schritten. Er kniete sich zwei oder drei Meter vor dessen Rand nieder und blickte zu Alan Sexton zurück, der ihm zunickte. Daraufhin kroch er das letzte Stück auf allen vieren, legte sich flach auf rauen Lavaboden und spähte vorsichtig in den von gleißendem Strahlen erhellten Schacht.
Melkorka blieb unmittelbar hinter Alan Sexton stehen.
»Sie werden erstaunt sein, mich zu sehen«, sagte sie kühl.
Der Amerikaner drehte sich blitzschnell um. Die Verwunderung in seinen dunklen Augen war offenkundig.
»Sind Sie doch zurückgekommen?«, sagte er.
»Zurückgekommen?«
|365| »Ja. Jack sagte mir, Sie hätten den Tauchgang in die Höhle abgebrochen und seien wieder rauf zum Boot.«
»Hat er das gesagt?«
Sexton kniff die Augen zusammen: »Ja. Stimmt das nicht?«
Melkorka zog die nicht detonierte Sprengkapsel aus der kleinen Tasche ihres Trockentauchanzugs und hielt sie dem Amerikaner zwischen zwei Fingern vor das Gesicht.
»Das hier hat Jack zurückgelassen, als er mich umzubringen versuchte«, sagte sie.
»Umzubringen versuchte?«, wiederholte Sexton.
»Die andere Sprengkapsel ging los und hat mir den Rückweg aus der Höhle versperrt, die wir gerade untersucht hatten. Eigentlich sollte ich jetzt mausetot sein, wenn es nach Jack Powell gegangen wäre.«
Sie steckte die Sprengkapsel wieder ein.
»Aber ich habe neun Leben, wie die Katzen, und deshalb noch einige in Reserve«, fügte sie hinzu.
Alan Sexton drehte sich um.
»Jack«, rief er.
Sein Kollege schien den Ruf nicht zu hören. Er hatte sich weiter über den Brunnenrand hinweggeschoben und starrte wie hypnotisiert in den blendenden Glanz.
»Jack!«
Sexton machte einige Schritte auf seinen Kollegen zu, trat gegen dessen dicke Sohlen und rief seinen Namen ein drittes Mal.
Da endlich kam Powell zu sich. Er schob sich hoch auf die Knie auf und blickte sie an.
Melkorka durchfuhr ein Schreck, als sie sein Gesicht sah. Die Haut war feuerrot geworden und hatte auf Wangen |366| und Stirn Runzeln bekommen, als hätte sie eine enorme
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