Runen
Laufschritt zu dem Haus und läutete Sturm. Doch niemand öffnete. Er trommelte heftig gegen die Tür. Immer noch ließ sich niemand blicken. Da riss er an der Tür. Sie war unverschlossen und ließ sich öffnen.
»Ich gehe rein«, verkündete er.
Erna folgte ihm in den großen, hellen Raum. Hier hatte sie Sexton und seine Assistenten über ihre Laptops und die Karte auf dem großen Flachbildschirm gebeugt gesehen. Jetzt war der Raum leer. Auch die ganze Technik war verschwunden.
Kári sprang in großen Sätzen die Treppe hinauf in den oberen Stock. Erna rief über ihr Handy bei der Flugsicherung auf dem Flughafen Reykjavík an. Dort bestätigte man ihr, was sie befürchtet hatte: Der Privatjet von Brownwater International, der die letzten Tage auf dem Inlandsflughafen gestanden hatte, hatte das Land verlassen.
Als Kári atemlos vom Laufen die Treppe herunterkam, berichtete sie ihm ohne Umschweife von den Neuigkeiten: »Melville ist mit seinem ganzen Hofstaat abgeflogen.«
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Melkorka versuchte, sich nicht von dem heftigen Schrecken überwältigen zu lassen, der ihr bei diesem Anblick in die Glieder gefahren war. Ihr war der Ausweg aus dem natürlichen Wasserspeicher versperrt: Der enge Schlauch zwischen beiden Höhlen war bei dem Beben verschüttet worden.
Am Eingang zu dem Engpass lagen ein paar lose Blöcke auf ihrer Seite. Die konnte sie zu sich heranziehen und wegwälzen. Sie rollten rasch in die Tiefe des finsteren Raumes. Dahinter aber hatte sich eine massive Platte aus schwerem Lavagestein hoffnungslos zwischen den Felswänden des engen Gangs verkantet. Die Platte rührte sich nicht einen Millimeter, egal, wie heftig Melkorka auch daran zog und zerrte.
Sie befand sich in äußerster Lebensgefahr, so viel stand fest. Sie zwang sich, weiterhin ruhig zu atmen. Was immer passierte, sie durfte jetzt nicht kopflos handeln.
Schließlich musste sie die Tatsache anerkennen. Der Rückweg aus diesem unterirdischen Gefängnis war und blieb ihr völlig verschlossen. Sie lehnte sich an die raue Felswand und analysierte ihre Lage so ruhig und kühl, wie sie konnte.
Das Resultat dieser Überlegungen war allerdings höchst simpel: Wenn sie nicht innerhalb einer Stunde einen zweiten |354| Ausgang aus dieser Höhle fand, war der Sauerstoffvorrat in der Taucherflasche aufgebraucht und der Tod unausweichlich.
Sie unternahm einen letzten Versuch, die schwere Lavaplatte aus der Engstelle zu entfernen. Doch obwohl sie kleinere Bruchstücke und Steine um die massive Platte herum wegnehmen konnte, reichten ihre Kräfte nicht aus, um den Lavastein zu bewegen.
Es hatte keinen Sinn mehr, noch weiter daran herumzuzerren.
Erschöpft schob sie sich von der Öffnung weg. Dabei fiel der Lichtstrahl ihrer Stirnlampe auf einen metallischen Gegenstand. Er lag auf einem Haufen Lavasplitt auf der anderen Seite der Lavaplatte.
Melkorka gelang es, den länglichen Metallgegenstand zu erreichen, und hielt ihn in den Lichtkegel. Was war das?
Sie brauchte eine Weile, um zu erkennen, dass das Ding in ihrer Hand eine nicht explodierte Sprengkapsel war.
Wie kam Sprengstoff hierher?
Und jetzt endlich sah Melkorka das vermeintliche Erdbeben in einem ganz anderen, noch viel schrecklicheren Licht: Der Felssturz, der ihr den Rückweg versperrte, hatte keine natürliche Ursache gehabt.
Es war das Werk von Menschenhand.
Aber wieso sollte Jack Powell sie umbringen wollen? Oder steckte Sexton dahinter? Oder am Ende gar der kanadische Milliardär, der Auftraggeber der beiden?
Sie wusste nur eines: Irgendeiner von ihnen hatte sie zum Tod in der Dunkelheit dieser Unterwasserhöhle verurteilt. Möglicherweise steckten sie sogar alle drei dahinter.
|355| Melkorka spürte, wie der Zorn ihr das Adrenalin durch den Körper jagte.
Üblicherweise warf sie bei unerwarteten Schwierigkeiten nicht gleich die Flinte ins Korn. Es hätte im krassen Widerspruch zu allem gestanden, was sie von ihrem Vater gelernt hatte: niemals aufzugeben. Immer wieder aufzustehen und unbeirrt weiter den Erfolg anzustreben.
Sie verwahrte die Sprengkapsel in einer kleinen Tasche an ihrem Tauchergürtel. Dabei bemerkte sie, dass sich auf dem feinen Lavasplitt in der Engstelle kleine Rippeln gebildet hatten. Das wies eindeutig darauf hin, dass das Wasser zwischen den beiden Höhlen in Bewegung war.
Sie spürte neue Hoffnung in sich aufsteigen. Wenn das Wasser aus dieser Höhle abfloss, dann musste es auch irgendwo in die Höhle hinein fließen.
Aber wo?
Melkorka tauchte
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