Runen
Robert M. Houston von seinem Mörder überrascht worden war.
Das Blut aus der tiefen Halswunde war bereits geronnen. Offenbar war der Professor schon vor einigen Stunden ermordet worden; möglicherweise in den ersten Nachtstunden oder sogar schon am Abend zuvor.
Die nächsten Stunden vergingen wie in einem traumartigen Nebel.
Uniformierte Polizisten trafen am Tatort ein, auf dem Fuß gefolgt von der aufgelösten Rezeptionistin. Die Beamten schoben die beiden Frauen sofort auf den Flur hinaus. Dann folgte die Kriminalpolizei mit Spurensicherungsbeamten in weißen Ganzkörperanzügen, die den Tatort unter die Lupe nahmen.
Melkorka trank im Büro des Gästehauses im Erdgeschoss |123| schluckweise heißen Tee, aber das munterte sie nur wenig auf. Jedes Mal, wenn ihr das grauenhafte Bild von dem Bett dort oben wieder vor das innere Auge trat, durchrieselte sie ein unangenehm kalter Schauder. Die klaffende Wunde am Hals. Das dunkelrote Blut auf dem Kissen. Der tote Blick der Augen.
Guðjón Baldvinsson verhörte Melkorka und die Rezeptionistin im Büro des Gästehauses. Melkorka schilderte ihm, wie sie die Leiche gefunden hatte. Die Rezeptionistin bestätigte ihre Aussage und zeigte dem Kriminalhauptkommissar die Anmeldung des Professors im Computer.
»Robert M. Houston und Frau Greta Houston«, las Guðjón laut vom Bildschirm. »Weiß seine Frau, was passiert ist?«
Das Mädchen von der Rezeption zuckte verlegen mit den Schultern.
»Wo ist Frau Houston?«, wiederholte der Hauptkommissar.
»Das weiß ich nicht.«
»Hast du sie heute Morgen nicht gesehen?«
»Nein, aber das heißt nichts. Ich bin morgens ständig am Rumrennen, weil’s so viel ist, was wir vor dem Mittag machen müssen.«
Guðjón wandte sich wieder an Melkorka.
»Wie warst du mit dem Toten bekannt?«
In knappen Worten erzählte sie ihm von dem unerwarteten Besuch des amerikanischen Professors: »Houston war bis gestern Abend bei Kári und mir zu Hause zu Besuch. Als er ins Hotel aufbrach, nahm er versehentlich eine CD mit, die uns gehört. Ich habe das Versehen heute Morgen bemerkt und bin schnell hierhergefahren, um mir |124| meine CD zu holen, aber stattdessen fand ich den Professor, tot.«
»Was ist auf dieser CD?«
»Ein Runentext, den wir untersuchen.«
Guðjón hob die Brauen.
»Runen?«, fragte er. »Was für Runen?«
»Nur ein Runentext, den mein Opa früher mal geschrieben hat.«
»Dein Großvater? Höskuldur Steingrímsson?«
»Ja.«
Der Hauptkommissar dachte eine Weile nach. Diese unerwartete Verbindung zwischen zwei gewaltsamen Todesfällen, einem Mord und einem Selbstmord, schien ihm ein äußerst eigenartiger Zufall zu sein.
»Hat der Professor deinen Großvater irgendwie gekannt?«
»Kann ich mir nicht vorstellen«, antwortete Melkorka.
»Und hast du die CD gefunden?«
»Nein. Ich war viel zu schockiert, um danach zu suchen.«
»Was ist mit seiner Frau?«
»Sie war nicht dabei, als der Professor uns besuchte.«
»Kennst du sie?«
Melkorka schüttelte den Kopf.
Kriminalkommissarin Erna Sól Hafsteinsdóttir betrat das Büro und brachte den Rucksack des Professors mit.
»Anhand des Ausweises heißt der Verstorbene Robert M. Houston und ist amerikanischer Staatsbürger«, verkündete sie und reichte dem Hauptkommissar die Tasche. »Hier ist auch ein Bild, von dem ich annehme, dass es von seiner Frau stammt. Ihr Pass ist aber nirgends zu finden, |125| ebensowenig eine Tasche mit ihrem Namen oder Kleidung von ihr.«
Guðjón inspizierte den Inhalt des Rucksacks: der amerikanische Pass, eine Lederbörse mit Kreditkarten, Dollarnoten und Fotos, ein Reiseführer für Island, ein englisches Taschenbuch mit dem Namen
The Master Plan
, ein elektrischer Rasierapparat und ein brauner Toilettenbeutel. Er öffnete die Lederbörse, betrachtete die Fotos und zeigte der Rezeptionistin das Bild, auf das Erna hingewiesen hatte.
»Ist das seine Frau?«
»Ja«, bestätigte das Mädchen.
»Darf ich mal sehen?«, bat Melkorka, die sich allmählich wieder erholte.
Der Hauptkommissar legte das Foto auf den Schreibtisch.
Sofort erkannte Melkorka das blonde Haar, das sonnengebräunte Gesicht und die strahlend blauen Augen.
»Aber das ist ja die Deutsche«, rief sie aufgeregt. »Das ist Greta von Trittenheim-Schneider.«
|126| 26
Sonntag, 6. Mai
Mit einem Schrei fuhr Melkorka aus einem Alptraum hoch.
Sie hatte Greta von Trittenheim-Schneider mit einem hocherhobenen Messer auf dem nackten Bauch des amerikanischen Professors
Weitere Kostenlose Bücher