Runen
geschickt.«
»Hm.«
Professor Houston überlegte eine Weile. Er spürte dem Duft des Rotweins nach.
»Ich muss wohl davon ausgehen, dass der Unbekannte wusste, dass ich auf Reisen war, während er sich hier im Lande aufhielt«, sagte er schließlich. »Er hätte es wohl kaum gewagt, hier unter meinem Namen aufzutreten, wenn er nicht absolut sicher gewesen wäre, dass ich verreist bin.«
»Wo waren Sie denn?«, erkundigte sich Kári.
»Vor zehn Tagen war ich gerade dabei, die Vorbereitungen zu meiner alljährlichen Vorlesungsreihe in den USA |156| abzuschließen. Da bekam ich unerwartet ein Angebot, die Universität auf Hawaii zu besuchen. An- und Abreise waren frei. Außerdem sollte ich an einer einwöchigen Tagung über die Anfangsjahre des Nationalsozialismus in Deutschland teilnehmen«, antwortete der Professor. »So ein Angebot konnte ich unmöglich ausschlagen, selbst wenn ich dafür gleich am nächsten Morgen von Deutschland in die USA fliegen musste.«
»Kam Ihnen das nicht seltsam vor, ein Angebot mit so kurzer Vorlaufzeit zu bekommen?«
»Nein, zu dem Zeitpunkt nicht, da man mir gesagt hatte, dass einer der wichtigsten Veranstalter einen schweren Unfall gehabt habe und dass sie in einer höchst bedenklichen Bredouille steckten. Aber jetzt …«
»… sieht die Sache natürlich anders aus«, beendete Susan den Satz anstelle ihres Vaters.
»Ganz genau.«
Melkorka gab dem Professor eine kurze Zusammenfassung vom Inhalt des Notizbuchs, hauptsächlich von Höskuldurs Suche nach Gotatýrs Runenlied.
»Mein Vater hat an der okkulten Seite der Geschichte des Nationalsozialismus weitaus weniger Interesse als ich«, warf Susan ein und nahm einen Schluck Cognac.
»Ja, ich bin durch und durch bodenständig und habe wenig für Phantastereien und Aberglauben von der Art übrig, wie sie Alfred Rosenberg, Heinrich Himmler und die Lügenwissenschaftler von Ahnenerbe in restloser Begeisterung glaubten«, stimmte Houston zu.
»Aberglauben ist in der Tat noch ein exzellentes Geschäftsfeld in aller Welt«, fügte Kári hinzu.
»Wahr gesprochen. Leider haben die Wissenschaften |157| im Kampf gegen die Unwissenheit des Aberglaubens den Kürzeren gezogen. Aber trotzdem gibt es da einige merkwürdige Tatsachen in diesem Notizbuch, nicht wahr?«
»Meinen Sie die Fotos?«, fragte Melkorka.
»Ja, Sie haben mir eines davon geschickt. Das mit den zwei SS-Leuten bei dem deutschen U-Boot. Ich habe es an Leute weitergeleitet, die einen besseren Zugang zu mehr Informationen über das Dritte Reich haben als die meisten anderen.«
»An wen?«
»Ich habe lange Zeit eng mit Spezialisten einer Institution zusammengearbeitet, die nach dem Nazijäger Simon Wiesenthal in Jerusalem benannt ist. Sie spüren unter dem Motto ›
Letzte Gelegenheit
‹ immer noch Kriegsverbrecher aus den Reihen der Nazis auf. Sie glauben, dass sie die beiden SS-Angehörigen auf dem Foto Ihres Großvaters erkannt haben, und sind davon überzeugt, dass einer der beiden auf der Liste derjenigen Verdächtigen steht, die im Zweiten Weltkrieg systematischen Massenmord begangen haben.«
|158| 33
Melkorka schaute den amerikanischen Professor mit wachsendem Entsetzen an. Beschuldigte er wirklich ihren Großvater, Verbrechen begangen zu haben?
»Großvater behauptet, dass er die SS-Männer Trittenheim und Ramstein fotografiert hat«, sagte sie schließlich so ruhig, wie es ihr nur möglich war. »Geht es dabei um dieses Bild?«
»Ja, der Linke ist aller Wahrscheinlichkeit nach der Schwarze Bankier«, bestätigte Houston. »Und neben dem Freiherrn steht Gerhard von Ramstein, der um dieselbe Zeit wie von Trittenheim verschwand, also im Herbst 1944.«
»Wer von den beiden hat Kriegsverbrechen begangen?«, hakte Kári nach.
»Vermutlich beide, denn von Trittenheim hat an der Planung der Verwendung des Zahngoldes mitgearbeitet, das den ermordeten Juden in den KZs aus den Kiefern gebrochen wurde. Von Ramstein hingegen wurde in den fünfziger Jahren als Kriegsverbrecher gesucht. Bis jetzt war es eine weitverbreitete Auffassung, dass die beiden SS-An gehörigen einige Zeit vor Kriegsende umgekommen sind, wenn auch nicht bekannt ist, auf welche Weise. Das Foto gibt aber einen neuen Hinweis darauf, dass beide lebend vom europäischen Kontinent flüchten konnten.«
|159| »Ist es denn möglich, so einen Schluss einzig und allein aufgrund des Bildes zu ziehen?«, fragte Melkorka.
»Sicher doch. Die Spezialisten des Wiesenthal-Instituts halten es für möglich, dass
Weitere Kostenlose Bücher