Runen
Susan Houstons bei dem Gespräch nichts einzuwenden.
»Professor Houston verfügt über exzellente Kenntnisse zur Geschichte des Dritten Reiches und kann mich daher warnen, wenn Sie versuchen sollten, mir die Hucke vollzulügen«, warnte Melkorka.
Sie entnahm den Informationen aus dem Internet, dass John R. Melville schwerbehindert war, da er sich bei einem Hubschrauberabsturz in den kanadischen Rocky Mountains vor acht Jahren massive Verletzungen zugezogen hatte. Daher zeigte er sich nur mehr äußerst selten in der Öffentlichkeit. Er wohnte in einem Berghotel hoch oben am Rand einer steil abfallenden Felswand. Vor rund zwei Jahrzehnten hatte er dafür die Baugenehmigung erhalten. Es war ein prachtvoller Steinbau mit einem Obergeschoß, das rundum mit dicken Balken verkleidet war.
Melkorka hielt unwillkürlich den Atem an, als der Milliardär auf dem großen Flachbildschirm im Wohnzimmer erschien. John R. Melville schien vom Hals abwärts vollständig gelähmt zu sein.
Der Kanadier saß direkt vor der Kamera in einem großen, elektrisch betriebenen Rollstuhl mit hoher Rückenlehne. Quer über Schultern, Brust, Bauch und Oberschenkel waren breite Bänder gespannt, die ihn im Stuhl hielten. Seine Hände lagen auf einem weichen Kissen in seinem |193| Schoß. Zu beiden Seiten saßen zwei junge Frauen. Eine von ihnen führte einen schmalen, silberfarbenen Arm, der auf der Rückseite des Stuhles befestigt war, vor sein Gesicht.
»Sind wir drin?«, fragte Melville. Seine Stimme kam automatenhaft fremd aus einem Stimmgenerator.
Ein großes Unbehagen befiel Melkorka, wie immer, wenn sie einen Schwerbehinderten sah. Er erinnerte sie unangenehm an die Vergänglichkeit der Gesundheit, die für sie eine so große Rolle beim Erklimmen der Karriereleiter spielte.
»Wie Sie sehen, sind meine körperlichen Freuden begrenzt«, begann Melville. »Die einzigen Eindrücke, die mich gegenwärtig noch wirklich glücklich machen, sind Duft und Geschmack. Zwar sind die Augen noch in Ordnung, aber was bedeutet es schon zu sehen, ohne berühren zu können?«
»Sicherlich besser, als gar nichts zu sehen«, erwiderte Melkorka.
»Das will ich nicht abstreiten, aber mitunter kann es fast unerträglich sein, etwas Schönes zu sehen, ohne es berühren zu können. Das gilt insbesondere für schöne Frauen.«
Melkorka lächelte unwillkürlich.
»Ich habe viele wunderbare Stunden in den Armen von Frauen verbracht, aber selbst die wunderbarste Erinnerung wird in diesem Gefängnis aus Fleisch zur Qual und zu einer schmerzhaften Erinnerung an all das, was ich nie wieder werde tun können. Können Sie sich eine Vorstellung davon machen, was es heißt, in diesem gelähmten Körper gefangen zu sein?«
»Ja, ich glaube schon.«
»Nein. Keiner kann das, deres nicht selbst durchgemacht |194| hat. Dieselben Gedanken und Sehnsüchte, dasselbe Verlangen zu haben wie ein gesunder Mann, leidenschaftlich zu lieben und von Ängsten gequält zu werden, aber diesen Gefühlen nie ein normales Ventil gewähren zu können? Das ist die Hölle auf Erden.«
Melkorka wollte vor allem so schnell wie möglich zur Sache kommen.
»Was wollen Sie von mir?«
Melville lächelte schwach.
»Du bist eine Frau nach meinem Geschmack. Verschwendest keine Zeit auf unnützes Gerede«, erwiderte er. »So war ich auch, als die ganze Welt noch einer Bühne glich, auf der ich die Hauptrolle spielte.«
»Nun also?«
»Ein Sprichwort sagt: ›Kleine Ursache – große Wirkung‹, und damit meine ich dieses Foto, das Sie von Ihrem Großvater geerbt haben und übers Internet in die Welt hinausschickten.«
»Welche Verbindung haben Sie zu den SS-Leuten auf dem Bild?«, fragte Melkorka.
»Freiherr von Trittenheim interessiert mich nicht«, gab Melville mit heiserer Computerstimme zurück. »Aber ich gestehe bereitwillig die nahe Verwandtschaft mit Gerhard von Ramstein ein. Er war mein Vater.«
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Susan erschrak sichtlich, als sie die lapidare Feststellung des kanadischen Milliardärs hörte, der Sohn des deutschen Kriegsverbrechers zu sein.
»Ich habe keine persönlichen Erinnerungen an meinen Vater, da ich erst drei Jahre alt war, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging«, fuhr John Ramstein Melville fort. »Meine Mutter erzählte mir erst dann über ihn, als ich sie als Zwölfjähriger fragte, woher der Name Ramstein in unserer Familie stammte. Da erfuhr ich, dass Andrew Melville mich adoptiert hatte, dass ›Papa‹ nicht mein leiblicher Vater war, sondern ein
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