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Runenschild

Titel: Runenschild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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erschrockenen
Satz, als er sah, wie nahe ihr Fuß dabei dem Abgrund kam,
aber er beging nicht den Fehler, sie zurückhalten zu wollen, was sie möglicherweise erschreckt und endgültig zu
einer Katastrophe geführt hätte.
Gwinneth folgte dem Pfad fast auf ganzer Länge, bevor
sie wieder stehen blieb und sich mit gerunzelter Stirn umsah, die linke Hand über das Gesicht erhoben, um ihre
Augen vor dem schneidenden Wind zu schützen.
Lancelot fragte sich für einen Moment, ob sie ihm vielleicht etwas vorspielte und gleich behaupten würde, den
Weg nicht wiederzufinden, aber dann entschuldigte er sich
in Gedanken bei Gwinneth, ihr eine solche Täuschung
unterstellt zu haben. Vermutlich hatte sie tatsächlich Probleme, sich zu orientieren. Die Felsen waren vollkommen
vereist. Gefrorener Schnee und Wasser waren zu bizarren
Formen erstarrt, die fast einen ganzen Winter über Zeit
gehabt hatten, zu wachsen und sich auszubreiten. Ganz
bestimmt sah es hier vollkommen anders aus, wenn kein
Schnee lag. Er drängte Gwinneth daher nicht, sondern trat
nur vorsichtig an ihr vorbei und sah aufs Meer hinab.
Trotz des Sturms, der die Wasseroberfläche peitschte, an
seinen Haaren und Kleidern riss und ihm die Tränen in die
Augen trieb, war es ein erhebender Anblick. Sie konnten
nicht nur das Meer sehen, sondern auch den weit geschwungenen, natürlichen Hafen, der unterhalb Tintagels
lag und dem die Burg früher ihren Reichtum und Einfluss
verdankt hatte. Jetzt war er nahezu verlassen und dem
Verfall preisgegeben. Kurz nach ihrer Ankunft auf Tintagel waren Sean und er einmal dort hinuntergeritten, um
sich einen Überblick zu verschaffen, und was er gesehen
hatte, das hatte Lancelot mit einer Mischung aus Trauer
und Wut erfüllt. Die weitläufigen Hafenanlagen waren
verwaist und zum Teil zerstört, die allermeisten Häuser
der kleinen Ansiedlung aufgegeben und viele von ihnen
bereits unbewohnbar.
Er hatte Gwinneth nicht danach gefragt, aber ihm war
klar, dass dieser Verfall nicht erst eingesetzt haben konnte,
nachdem Uther und sie Tintagel verlassen hatten. Vielmehr hatte ihm auch Sean – der offensichtlich eine Menge
von Seefahrt verstand – versichert, dass dieser Hafen seit
mindestens einem Jahrzehnt nicht mehr benutzt worden
war, und die wenigen Menschen, die sie getroffen und mit
denen sie geredet hatten, hatten diese Behauptung bestätigt. Etliche der früheren Bewohner waren mittlerweile
zurückgekehrt und noch mehr waren zweifellos auf dem
Weg hierher, und Lancelot bezweifelte nicht, dass der Hafen bald wieder in seiner alten Pracht und Größe entstehen
würde – wenn Artus, Morgaine Le Faye und das Schicksal
es zuließen.
Im Augenblick aber war der Anblick selbst von hier
oben aus ein grausames Beispiel für die Krankheit, an der
das ganze Land litt. Sie blickten nicht auf die Spuren einer
gewaltsamer Zerstörung, sondern einer anderen, viel unauffälligeren, leiseren und vielleicht gerade dadurch gefährlicheren Entwicklung. Die Menschen dort unten hatten
den Mut verloren. Es gab nichts mehr, wofür sie arbeiten
konnten, kein Ziel mehr, das ihnen die Kraft gab, auch die
schlimmsten Entbehrungen durchzustehen. Was geschah
mit diesem Land?
»Das ist es«, drang Gwinneths Stimme in seine Gedanken. Noch bevor er sich ganz zu ihr umgedreht hatte, fügte
sie hinzu: »Jedenfalls … glaube ich es.«
Lancelot trat rasch neben sie. Sein Blick folgte ihrem
ausgestreckten Arm, doch im ersten Moment konnte er
nichts als Schnee, Eis und verkrustete Felsen erkennen.
Dann aber entdeckte er den schmalen, steil in die nahezu
lotrecht abfallende Felswand hineingemeißelten Pfad und
ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken. Gwinneth
hatte Recht gehabt: Es war unmöglich, dort hinunterzukommen. Jedenfalls im Moment. Der Weg war kaum so
breit wie zwei nebeneinander gelegte Hände und musste
schon bei Windstille und gutem Wetter lebensgefährlich
sein. Wie Merlin, der auch während seiner Zeit auf Tintagel bereits ein alter Mann gewesen war, dort hatte hinabsteigen können, war ihm ein Rätsel.
»Und die Höhle?«, fragte er.
Statt zu antworten deutete Gwinneth nach unten und
Lancelots Blick folgte auch dieser Geste. Trotzdem dauerte es eine geraume Weile, bis er den schmalen, keilförmigen Spalt im Felsen entdeckte. Vermutlich war das einzig
dem Eis zu verdanken, mit dem sich der Fels überzogen
hatte, dass er ihn überhaupt sah, denn es war der einzige
Flecken weit und breit, auf dem

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