Runenschild
Auch sie war weiter zurückgewichen und stand mit dem
Rücken an der Wand neben dem Kamin. Sie sah zu ihm
hoch und Lancelot erkannte nun, dass sie längst nicht so
schwer verletzt war, wie er im ersten Moment angenommen hatte. Im Grunde war das, was er für eine gefährliche
Wunde gehalten hatte, kaum mehr als ein Kratzer, aus
dem nur einige Blutstropfen über ihr Gesicht gelaufen
waren. Aber auch ihre Augen waren groß und fast schwarz
vor Entsetzen, und was Lancelot darin las, das brach ihm
fast das Herz. Es war Angst, doch diese Angst hatte einen
völlig anderen Grund, als er bisher angenommen hatte. Er
wollte etwas sagen, aber er konnte es nicht. Seine Kehle
war wie zugeschnürt.
»Ich danke Euch, Herr«, sagte Sean noch einmal. »Aber
wer seid Ihr?«
Lancelot schwieg noch immer. Seine Kehle war wie zugeschnürt und es wurde nicht besser, sondern schlimmer.
Er verstand nicht wirklich, was er da in Gwinneths Augen
las, aber das war nur die halbe Wahrheit. Die ganze Wahrheit war, dass er es nicht verstehen wollte , weil er diese
Wahrheit nicht ertragen hätte.
Seine Schwerthand begann immer heftiger zu zittern.
Mit aller Kraft riss er seinen Blick von dem Gwinneths
los, schob das Ritterschwert in die silberbeschlagene
Scheide und griff mit beiden Händen nach den Zügeln des
Einhorns. Das Tier scharrte unruhig mit den Vorderhufen,
als spüre es den Aufruhr von Gefühlen, der seinen Reiter
quälte, und schüttelte die prachtvolle Mähne so heftig,
dass Sean erschrocken einen halben Schritt zurückwich
und plötzlich wieder ein bisschen alarmiert aussah.
»Herr?«, fragte er.
Lancelot sah in schweigend an, dann ließ er seinen Blick
nacheinander über die Gesichter der anderen Iren schweifen. Er erkannte Erleichterung und Verwirrung, aber auch
ein deutliches Misstrauen, und keineswegs die Dankbarkeit, mit denen man einen Retter oder auch nur einen potenziellen Verbündeten musterte.
»Wir müssen hier raus, Herr«, sagte Sean mit einer
Kopfbewegung auf die offen stehende Tür zum hinteren
Raum. Die Flammen brannten jetzt heller, schwarzer
Rauch quoll unter dem Türsturz hervor und begann sich
unter der Decke zu sammeln. »Das Haus wird niederbrennen.«
Lancelot nickte schweigend. Er vermied es, Gwinneth
anzusehen, als er das Einhorn auf der Stelle wenden und
zur Tür reiten ließ. Sean rief ihm noch irgendetwas nach,
das er nicht verstand, und nur einen Augenblick später war
er wieder draußen im Sturm und das wirbelnde weiße
Chaos und das Heulen tausend losgerissener Höllenwölfe
verschlang das Einhorn und seinen Reiter.
Obwohl kaum mehr als fünf Minuten vergangen sein
konnten, bis Dulac zurückkehrte, stand das Hauptgebäude
bereits in hellen Flammen. Das gesamte Dach qualmte wie
ein Feuer aus nassem Stroh und aus den Fenstern und Türen quoll dunkler Rauch, in dem es hin und wieder gelb
und rot aufblitzte. Aus dem Dach schlugen winzige Vulkane aus Funken und brennenden Holzsplittern, bevor sie
vom Sturm auseinander gerissen und weggetragen wurden, und selbst über dem Heulen der entfesselten Naturgewalten waren die panikerfüllten Schreie des Viehs in
den Ställen zu hören.
Lancelot war gerade weit genug geritten, um sicher zu
sein, dass man ihn vom Haus aus nicht mehr sehen konnte,
und dann nach links abgebogen, dorthin, wo sie Gwinneths Pferd im Wald zurückgelassen hatten. Fast zu seiner
eigenen Überraschung hatte er das Tier auf Anhieb gefunden und sich an Ort und Stelle seiner Rüstung und Waffen
entledigt, so schnell er nur konnte. In aller Hast verstaute
er die Zauberrüstung auf dem Einhorn und ergriff Gwinneths Schimmel am Zügel, um das Tier zurück zum Gasthaus zu führen. Der Sturm hatte noch weiter an Gewalt
zugenommen, und obwohl es im Grunde nur wenige
Schritte waren, hätte Dulac sich möglicherweise selbst auf
diesem kurzen Wegstück verirrt, hätte ihm nicht der immer heller werdende Feuerschein die Richtung gewiesen.
Als er sich der Rückseite des Gebäudes näherte, hatte
das Feuer bereits auf das Dach des Stalles und somit auch
auf den Heuboden überzugreifen begonnen. Die Türen
standen jedoch weit offen, und noch bevor er Zeit gefunden hätte, wirklich in Panik zu geraten, kamen ihm zwei
von Seans Brüdern entgegen, die offensichtlich in aller
Hast die Pferde aus dem Stall getrieben hatten – unter ihnen auch das Packpferd, auf dessen Rücken sich ihre gesamte zusammengeschmolzene Habe befand. Dulac wollte
nach seinen Zügeln
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