Runlandsaga - Die Schicksalsfestung
musste sie einfach noch einmal sehen. Mitten in der Bewegung wirbelte er herum.
Sie hatte ihm nachgeblickt. Beide starrten einander über die Weite des Strandes an. Es schneite erneut, dicke Flocken, die zwischen ihnen herabtanzten und sofort auf dem nassen Boden dahinschmolzen.
Beinahe gleichzeitig hoben beide eine Hand und winkten einander stumm zu. Neria liefen Tränen über die Wangen. Ihr Mund bewegte sich lautlos. Auch Enris’ Blick verschwamm. Mit schier übermenschlicher Anstrengung drehte er sich wieder um und ging weiter. Es schoss ihm durch den Kopf, wie er einmal gehört hatte, dass einem beim Sterben Bilder des eigenen Lebens vor den verlöschenden Augen vorbeiziehen würden. Er hoffte von Herzen, dass dies nicht stimmte. Jenes Bild von Neria, die er weinend an diesem leeren Strand zurückließ, verfolgte ihn bereits jetzt.
Ich will keine quälenden Erinnerungen sehen, wenn ich einmal sterbe , dachte er. Nicht einmal schöne. Wenn ich gehe, will ich einfach nur vergessen.
22
Die wolkenverhangene Nacht fegte mit eisigen Händen über Pándaros hinweg. Sein Kopf schmerzte so stark, dass ihm schwindlig wurde und er glaubte, er müsse sich übergeben. Er versuchte, ihn zu drehen, aber es gelang ihm nicht, sich zu bewegen. Auch Arme und Beine waren wie gelähmt. Sogar sein Mund schien versiegelt, und seine Lippen wollten sich nicht öffnen, egal wie sehr er sich auch abmühte, einen lauten Hilfeschrei von sich zu geben. Nur das Atmen durch die Nase war ihm möglich. Er konnte die Lider schließen und wieder öffnen, was ihn schließlich davon überzeugte, dass er nicht im Griff eines grauenerregenden Alptraums steckte. Doch die Wirklichkeit, die sich Stück für Stück an seinen hämmernden Kopfschmerzen vorbei in seinen Verstand zwängte, konnte nicht weniger entsetzlich sein, wie er voll Schrecken erkennen musste.
Er flog, auf dem Rücken liegend, das Gesicht den schwarzen nächtlichen Winterwolken zugewandt, die vor dem etwas helleren Tuch des Himmels die Sterne verhüllten. Der frostige Wind riss hart an seinen Haaren und brachte seine Augen zum Tränen.
Wo war er?
Schattenhafte Bilder versteckten sich hinter den Wolkenfetzen über ihm, die gedrungenen Umrisse der drei Zwerge, die Deneb und ihn begleitet hatten. Er glaubte, auch die Gestalt des kleinen Archivars erkennen zu können. Die Hände seines Freundes streckten sich nach ihm aus, geisterhaft beschienen vom Glanz des abnehmenden Mondes. Sie versuchten, zu ihm zu gelangen, ihn zu berühren, aber vergebens. Mit einem harten Ruck wurde er gepackt und fortgerissen, weg aus der Kälte der Stillen Hallen. Sein Körper verschwand, löste sich auf, die Finger seines Freundes fuhren durch ihn hindurch wie durch Luft. Denebs entsetzte Miene hing wie ein Nachbild vor geschlossenen Augen zwischen den Wolkenfetzen. Es verblasste, vertrieben von einer rauen, schnarrenden Stimme, die ihm wie mit einem Fleischerhaken das Rückgrat hinabfuhr, und die er kannte. Das letzte Mal hatte er sie aus dem wie zum Schrei geöffneten Mund des toten Gersan vernommen.
»Rühr dich nicht, Temari – und keinen Laut, oder ich breche dir das Genick!«
Die Drohung wäre nicht nötig gewesen. Allein die Erinnerung an diese Stimme hatte ihn so steif wie ein Brett werden lassen. Danach war alles in seiner Erinnerung so verschwommen wie das Wolkenmeer am Himmel, in das er nun hilflos hinaufstarrte. Doch etwas stand aus dieser formlosen Masse an halbbewussten Schemen heraus: Das Gesicht des Ungeheuers, das ihn entführt hatte, langgezogen und schuppig wie das einer Eidechse, aber mit Hornzacken in der Mitte des Kopfes, die bis in den Nacken hinabführten, wo sie unter einer gelbbraunen Robe verschwanden. Die Augen in diesem Gesicht aber waren das Fremdartigste, noch unheimlicher als die halb geöffnete Schnauze mit den gebleckten Zähnen. Sie leuchteten mit einer kalten Gewissheit, dass es kein Hindernis gab, das dieses Wesen nicht niederreißen würde, um sein Ziel zu erreichen.
Er meinte sich zu erinnern, dass er durch die Dunkelheit gezerrt wurde. Unvermittelt spürte er Wind auf seiner Haut. Sie mussten sich unter freiem Himmel befinden. Die Schnauze des Wesens vor ihm zischte einige fremdartige Worte, deren Sinn Pándaros verborgen blieb, die ihm aber wie sich windende Würmer schmerzhaft in die Ohren krochen. Sofort befiel Lähmung seinen Körper. Die Füße versagten ihm den Dienst. Doch bevor er der Länge nach auf den felsigen Boden stürzen konnte, fühlte er sich
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