Runlandsaga - Die Schicksalsfestung
Vellardinfest, als er in den Höhlen unterhalb von Carn Taar auf Margon gestoßen war. Damals hatten die schicksalhaften Ereignisse, in die er unversehens hineingezogen worden war, ihren Anfang genommen.
Die Voronfrau blieb von einem Moment auf den anderen stehen und sah auf das Meer hinaus. Da sie sich immer noch bei ihm untergehakt hatte, verharrte er ebenfalls. Der eisige Wind zerrte beiden an ihren schwarzen Haaren. Enris ahnte, dass Neria ebenfalls darüber nachsann, wie es gekommen war, dass sie heute auf einer der Arcandinseln an einem verlassenen Strand entlangliefen. Er hatte recht gehabt, wie er erkannte, als sie mit verhaltener Stimme zu sprechen anhob.
»In meinem Traum war es nicht so kalt. Ich musste gerade daran denken, wie alles anfing. Der Vollmond vor Vellardin, als der Weiße Wolf mir von der Bedrohung dieser Welt erzählte und mich aus dem Wald fortschickte. Damals war ich an einem Ort wie diesem.« Sie schloss die Augen und atmete tief durch die Nase ein. Unwillkürlich musste Enris an ein witterndes Tier denken. »Es ist eigenartig«, fuhr sie fort, nun wieder um sich blickend. »Ich kann mich fast nie an das erinnern, was ich als Wölfin erlebt habe, wenn ich wieder meinen menschlichen Körper besitze. Aber die Vision, die Talháras mir zeigte, steht noch immer deutlich vor mir. Ich weiß genau, was für eine entsetzliche Angst ich vor der Weite des Strandes und der offenen See vor mir empfand. Es gab keine Deckung. Ich war wie gelähmt.«
Sie lachte kurz auf. Es klang wie ein verlegenes Husten. »Und sieh mich jetzt an. Ich spaziere mit dir am Meeresufer entlang, als wäre ich an der Küste aufgewachsen anstatt in einem dichten Wald.«
Sie blickte ihm in die Augen. Er beugte sein Gesicht dem ihren entgegen, und sie küssten sich. Ihre blutleeren Wangen fühlten sich eisig an, aber wenigstens waren ihre Münder warm.
»Ich will dich nicht gehen lassen«, flüsterte Enris. Er schloss die Augen und atmete den Duft von Nerias Haut ein, erst seit kurzem eine ersehnte Erinnerung und dennoch so vertraut, als würde sie ihn schon sein Leben lang begleiten.
»Ich dich auch nicht«, vernahm er ihre Stimme, ebenso leise wie seine, kaum hörbar über dem Rauschen der aufkommenden Flut und dem Heulen des Windes, der sich in der Bucht fing. »Aber wir wissen beide, dass es sein muss. Der Urahne unseres Volkes suchte mich für diese Aufgabe aus, von Anfang an.«
Er löste sich aus ihrer Umarmung und betrachtete sie ernst. »Bist du dir wirklich sicher, dass du die Schicksalsfestung finden kannst?«
Neria wich seinem Blick nicht aus. »Wenn Suvare mich nur weit genug bringt, dann habe ich die Hoffnung, dass die Träumende sie mich finden lässt.«
»Was ist, wenn es dann keine Möglichkeit mehr gibt, zurückzukehren?«
»Und was ist, wenn die Serephin euch bei dem Versuch den Wächterdrachen in Carn Taar zu beschützen, umbringen?«, fragte Neria scharf zurück. »Denkst du, nur du würdest dir Sorgen machen?«
»Verzeih mir!«, sagte Enris betreten. »Ich dachte, weil du dir nichts hast anmerken lassen ...«
»... dass es mir egal wäre, wohin du gehst und in welche Gefahr du dich begibst?« Die Wolfsfrau schüttelte mit einem bitteren Lachen den Kopf. »Glaub mir, es ist mir alles andere als gleich! Ich versuche nur, es den anderen nicht mit einem dicken Knüppel überzubraten, wie schwer es mir fällt, dich fort zu lassen. Und genauso schwierig ist es für mich, noch einmal auf dieses Schiff zu gehen, und diesmal da rauszufahren!« Ihr ausgestreckter Arm deutete auf die offene See. Enris bemerkte, dass die Gefasstheit ihrer Gesichtszüge bröckelte.
»Aber ich bin bereit, es zu tun, wenn es meinem Stamm hilft, und dem Wald – und wenn unsere Welt dann überlebt. Auch wenn ich am liebsten nicht hierher nach Irteca zurückgekommen, sondern mit dir in Eilond geblieben wäre, um bei dir zu sein, wohin auch immer du mit den Dunkelelfen gehen wirst. Es dennoch zu tun ist das Schwerste, was mir jemals vom Schicksal aufgebürdet wurde.«
Enris zog sie an sich und sah in ihre dunklen Augen, die sein Gesicht ernst musterten, als suchten sie nach dem leisesten Anzeichen danach, dass er ihr nicht glaubte.
»Ich bin so stolz auf dich.« Seine Stimme hörte sich rau und unbeholfen an. »Du bist stärker, als ich es jemals hoffen kann zu sein. Deshalb glaube ich auch daran, dass du die Schicksalsfestung finden wirst. Wenn es jemandem gelingen kann, dann dir.«
Ihre weit offenen Augen starrten ihn noch
Weitere Kostenlose Bücher