Runlandsaga - Die Schicksalsfestung
Miruni in der Mitte der Hütte stand und nun die Kapuze ihres Umhangs zurückwarf.
Schneeweißes Haar schimmerte wie ein Kranz aus Licht um den faltigen Kopf einer alten Frau in weiten Hosen und einer schmuddligen Felljacke. Pemiti hatte sie noch nie in der Siedlung gesehen. Seine Nase verriet ihm sofort, dass sie ein Mensch war – ein Mensch, der nach altem Fett und Branntwein stank.
»Sei gegrüßt, Pemiti«, sagte die Frau. Ihr Stimme erklang tief und voll.
»Ich habe sie gerade auf dem Dorfplatz erwischt«, erklärte Miruni. »Sie ist mitten in die Siedlung hineinspaziert, als gehörte ihr der Ort. Ich weiß nicht, wie sie es an den Wachen vorbeigeschafft hat. Sagte, sie wolle zu dir.« Er wandte sich an die Fremde. »Der einzige Grund, warum du noch am Leben bist«, sagte er drohend, »ist der, dass du Pemitis Namen kennst.«
»Dann danke ich Talháras, dass er ihn mir genannt hat«, erwiderte die Frau, die den scharfen Blick aus seinen tiefroten Augen erwiderte, ohne zu blinzeln. »Ebenso wie den seiner Gefährtin.«
Tekina war von ihrem Lager aufgestanden. Langsam trat sie dicht an die Alte heran. »Du bist uns einen Schritt voraus, da du unsere Namen kennst – und sogar den des Urahnen! Sag uns also auch deinen, damit wir dich als Gast behandeln können, und nicht als unsere Beute.«
Miruni öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber Tekina hob eine Hand, und er schwieg sofort. Das Anführerpaar würde entscheiden, was mit der Fremden zu geschehen hatte.
»Ich heiße Sarn«, antwortete die alte Frau. »Und ich bin gekommen, um euch eine Botschaft von Neria zu bringen.«
Die drei Voron, die um sie herum standen, waren bei der Erwähnung dieses Namens wie vom Donner gerührt.
»Du ... du kennst Neria«, rief Miruni aufgeregt. »Woher? Was weißt du von ihr, geht es ihr gut? Rede!«
»Sei still und lass sie sich setzen!«, befahl ihm Pemiti. Er deutete auf ein Ziegenfell vor sich. »Wir werden dir nichts zuleide tun. Solange du dich unter uns aufhältst, sollst du unser Gast sein und unseren Schutz genießen.«
Sarn nahm auf dem Fell Platz. Pemitis Überraschung darüber, dass ein Mensch ungehindert in die Siedlung vorgedrungen war, und noch dazu in diesem entsetzlichen Wetter, legte sich langsam. Plötzlich erinnerte sich der alte Voron.
Natürlich!
Er kannte diese Frau, wenn er bisher auch nicht ihren Namen gewusst hatte. Es gab Geschichten von einer Hexe, einer Menschenfrau, die allein mit einem Falken als Gefährten weit westlich von hier wohnte, jenseits der Jagdgründe seines Volkes. Sie hatte niemals die Grenzen zu dem Gebiet überschritten, in dem die Voron jagten, deshalb hatten diese sie auch immer in Ruhe gelassen. Er hatte schon so lange nichts mehr von ihr gehört, dass er angenommen hatte, sie wäre längst in den Ewigen Wald gegangen. Nun, so konnte man sich irren.
»Woher kennst du den Namen unseres Urahnen?«, verlangte Pemiti zu erfahren. »Bestimmt nicht von Neria. Sie würde ihn niemals verraten, selbst nicht, wenn ihr Leben auf dem Spiel stünde.«
»Er selbst hat ihn mir vor langer Zeit verraten«, erwiderte Sarn. Die Falten um ihren Mund verzogen sich zu einem matten Lächeln. »Wenn ich es mir recht überlege«, sagte sie nachdenklich, wie zu sich selbst, »so ist das vielleicht der Grund, warum ich all die Jahre über im Roten Wald blieb, nachdem der Weiße Wolf mir das Leben gerettet hatte. Irgendwie wusste ich immer, dass ich von da an in seiner Schuld stand – und dass sie eines Tages eingefordert würde.«
Sie holte tief Luft. »Ich habe Neria aus der Gewalt eines Gorrandhas befreit. So lernten wir uns kennen. Sie erzählte mir von der Bedrohung dieser Welt und von der Aufgabe, die der Wächter eures Volkes ihr gegeben hatte. Das war kurz vor dem fürchterlichen Sturm, mit dem das eigenartige Wetter anfing.«
Pemiti wusste genau, was Sarn meinte. Kurz nach dem Sturm hatten die Wesen des Waldes zuerst unter einer Hitzewelle wie in einem Backofen zu leiden gehabt, dann hatte es ununterbrochen geregnet, und schließlich waren Kälte und Schnee zurückgekehrt wie im schlimmsten Winter seiner lang vergangenen Kindheit.
»Seitdem sie weiterzog, hatte ich nichts mehr von ihr gehört«, sagte Sarn. »Doch vor ein paar Tagen träumte ich von ihr. Es war ein sehr eigenartiger Traum. Ich war darin wieder eine junge Frau, die gerade erst den Roten Wald zu entdecken anfing. Auf einmal tauchte sie auf und sprach zu mir. Talháras war auch bei ihr. Ich kann es nicht genau
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