Runlandsaga - Die Schicksalsfestung
vor denen er sich versteckte, seit seine Erinnerung zurückreichte – dem Tag, an dem er mit brüllenden Schmerzen in seinem Kopf aus den Wellen aufgetaucht war und Salzwasser erbrochen hatte, bis sich sein Magen verkrampft und er nur noch Galle in den nassen Sand gespuckt hatte.
In den folgenden Tagen und Wochen hatte er verzweifelt versucht, sich an seinen Namen zu erinnern, oder an Kleinigkeiten aus seinem Leben vor seinem Auftauchen an diesem Strand, aber vergebens. Ein großer Teil seines Gedächtnisses bestand aus nebelhaften Bildern wie hauchdünne Schleier, die jemand über Gemälde gehängt hatte. Was auch immer sie zeigten, war beinahe zu erkennen, aber eben nur beinahe, ein Juckreiz an einer Stelle seines Kopfes, die er einfach nicht erreichen konnte, egal wie sehr er sich auch zu kratzen versuchte.
Zu Tode erschöpft, sein Körper brennend vor Schmerzen, hatte er einen Feldweg gefunden, der vom Strand fortführte, und war ihn entlanggelaufen. Doch dieser führte ihn geradewegs in einen Alptraum, der beinahe noch schlimmer war, als zerschunden und ohne Erinnerung von der Brandung ans Ufer geworfen zu werden: Er endete in der verkohlten Ruine einer Stadt voller verwesender Leichen. So weit er auch schauen konnte, herrschte der Tod über der Bucht, und jene, die seine Ernte einfuhren, die Echsenwesen mit den furchterregenden goldenen Augen. Er konnte nicht sagen, woher er die Augenfarbe dieser Ungeheuer kannte, denn er vermied es, sich zu zeigen oder einem von ihnen auch nur nahe zu kommen. Doch sie war ihm bekannt, wie er auch wusste, dass die Wesen in der Festung auf jener einzeln stehenden Klippe ihr Lager hatten, die gleich einem lauernden Aasvogel mit angelegten Flügeln düster auf die Bucht hinab blickte.
Er hatte es nicht gewagt, den Weg ins Landesinnere zu nehmen, denn es gab dort keine Deckung, und die Echsenwesen hatten Wachen aufgestellt, um zu verhindern, dass sich jemand ungesehen der Bucht und der Festung näherte. So war ihm nichts anderes übrig geblieben, als sich weiter am Strand zu verstecken. Unter der Klippe, auf der die Festung stand, hatte er bei Ebbe Höhlen entdeckt, die ihn vor den Augen der Ungeheuer verbargen. Anfangs hatte er sich im Schutz der Nacht in die tote Stadt vorgewagt, um nach Lebensmitteln zu suchen. Aber er schlich nicht gerne dorthin, denn es bestand die Gefahr, auf Echsenwesen zu treffen. Außerdem war es ihm an diesem Ort, als befände er sich nicht mehr in der wirklichen Welt, sondern im Totenreich. Im nächtlichen Wind konnte er die Stimmen der Ermordeten hören, wie sie klagende Gesänge anstimmten und weinten, dass ihre Körper der Gewalt der Natur und den wilden Tieren preisgegeben waren. Ihr Schmerz grub sich so laut in seine Ohren, dass ihm der Schädel pochte und ihm schwindlig wurde vor Angst und Verwirrung. Er glaubte, sich ebenfalls aufzulösen, wie die Toten zu seinen Füßen. Er würde zu Boden gleiten und an ihrer Seite wie sie allmählich vermodern. Mit Mühe schaffte er es, wieder umzukehren, und weinte in der Sicherheit seines Strandverstecks über die Aussichtslosigkeit seiner Lage.
Die Tage vergingen, mit niemand anderem zur Gesellschaft als ihm selbst. Begleitet von dem beständigen Rauschen der See glitt er immer tiefer in eine Zwischenwelt voller halb erinnerter Bilder hinein, die keinen Sinn ergaben und ihm meistens eine entsetzliche Angst bereiteten.
Er wagte es nicht, ein Feuer zu entzünden, um sich nicht zu verraten, also aß er roh, was er am Strand finden oder erjagen konnte. Vielleicht wäre er verhungert, wenn ihn die Verzweiflung nicht tiefer in die Höhlen hineingetrieben hätte. Anfangs hatte er in den dunklen wassergefüllten Mulden im Gestein nach Tang und Muscheln gesucht, bevor ihm etwas noch Besseres untergekommen war.
Jetzt begann sein Magen heftig zu knurren, denn der vom Strand die Dünen hinaufwehende Wind trug den Duft von gekochtem Essen an ihn heran. Seine blutunterlaufenen Augen tränten in der Kälte. Er rieb sie sich stöhnend, als ein Schatten über ihn fiel. Mit einem leisen Ausruf wirbelte er herum, dass der frische Schnee unter ihm aufstob.
»Steh auf, Temari!«, befahl ihm der Fremde mit dem pechschwarz schimmernden, kurzen Haar und den meerblauen Augen, der streng auf ihn herabsah.
Das bärtige Kinn des Mannes zitterte. Vor Schreck fühlte er kaum die Wärme zwischen den Beinen, als sich seine Blase entleerte.
Enris teilte sich ein Zelt mit Angarn, Aros, Corrya und den beiden Kindern. Die Antara
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