Runlandsaga - Die Schicksalsfestung
dies kein Traumbild war. Sie befand sich tatsächlich in einer Welt aus der Vergangenheit. Die Menschen, auf die sie treffen würde, waren die Vorfahren der Menschen von Runland und ihres eigenen Volkes.
Hinter einer Reihe von kuppelartigen Gebäuden wie riesige Halbkugeln, die durch bogenförmige Brücken miteinander verbunden waren, fiel ihr eine weitere Mauer auf, die jener des Äußeren Verteidigungsrings glich. Jenseits der Mauer leuchtete eine noch größere Vielzahl von Türmen und Dächern aus weißem Stein. Sie hatte noch nie zuvor so viele Gebäude auf einmal erblickt. Gegen Mehanúr maß sich Menelon, die einzige Stadt, die sie bisher gesehen hatte, so winzig aus wie die Siedlung ihres Volkes im Roten Wald.
»Was befindet sich denn dort?«, fragte sie eine der beiden Serephinwachen und deutete in die Richtung der Mauer. Der Angesprochene sah zu ihr herab, ohne anzuhalten.
»Das ist der Tempelbezirk von Mehanúr. Er liegt im Inneren Ring der Stadt. Temari dürfen sich dort nicht aufhalten.«
»Heißt das, wir dürfen uns in der Stadt nicht frei bewegen?«, wollte Enris wissen.
»Nicht im Inneren Ring. Der ist nur für uns Serephin. Völker aus anderen Welten dürfen nur in Ausnahmefällen hinein. Hier im Außenbezirk steht es euch frei, zu gehen wohin ihr wollt, wenngleich ich euch rate, in der Zisterne zu bleiben. Dort ist es für euch am sichersten.«
Neria runzelte die Stirn. Das hörte sich so an, als ob die Flüchtlinge hier nicht nur Belagerte, sondern auch Gefangene waren. »Wo ist diese Zisterne?«
Der Wachmann deutete auf ein gedrungenes, würfelförmiges Gebäude am Ende einer schmalen Nebenstraße, in die sie eben eingebogen waren. »Da hinten könnt ihr den Eingang sehen.«
Sie erreichten das Haus, vor dessen offenem Tor ein weiterer Serephinkrieger Wache stand. Enris‘ und Nerias Begleiter wechselten einige wenige Worte mit ihm, dann traten die vier ins Innere des Gebäudes. Eine breite und gerade verlaufende Treppe führte sie stetig abwärts.
»Wir sind hier tief im Arfestan«, erklärte der Wachmann neben Neria. Mit einer Handbewegung und einem unverständlichen Wort in der Serephinsprache hatte er eine über ihm schwebende Kugel aus Licht erschaffen, die ihren Weg erhellte. »Aus der Zisterne bezieht Mehanúr seinen Wasservorrat. Sie ist ein Schatz, der nicht mit edlem Metall oder teuren Steinen aufzuwiegen ist.«
Als sie den weitläufigen Raum am Ende der Treppe betraten und der Wachmann die Lichtkugel über sich ein wenig höher schweben ließ, um die Umgebung besser auszuleuchten, sahen Enris und Neria, was er meinte.
Vor ihnen erstreckte sich eine weitläufige, rechteckige Säulenhalle. Ihr Ende war nicht zu erkennen, sondern verlor sich im Dunkeln. In regelmäßigen Abständen brannten Fackeln in Halterungen, die um die breiten Säulen führten. Ihr unruhiges Licht spiegelte sich im Wasser, das den Boden der Halle ausfüllte. Es war etwa drei Fuß tief. Zwischen manchen Säulen führten Wege aus Steinplatten hindurch. Sie verzweigten sich und durchzogen die Halle in ihrer Länge und Breite. Bei ihrem Anblick fühlte sich Enris an Bootsstege in einem Hafen erinnert. Die Wachen gingen mit den beiden Temari über die Steinwege tief ins Innere der Halle hinein. An einigen Stellen zweigten diese nach links, dann wieder nach rechts ab, führten letztendlich aber immer tiefer in den hinteren Bereich der riesigen Zisterne.
Nerias Blick wanderte im Gehen unruhig hin und her. Das Wissen, sich im Inneren eines Berges zu befinden und immer tiefer in den Fels hineinzulaufen, lastete mit jedem weiteren Schritt schwerer auf ihr. Als sie ins Wasser sah, das den Steinweg umgab, bewegte sich im Licht der Fackeln ein großer Schatten schnell von der Oberfläche fort, um mit der Schwärze der tieferen Wasserschicht zu verschmelzen.
Eine der beiden Wachen hatte bemerkt, was Neria aufgefallen war. »Die Zisterne ist mehr als nur ein Wasservorrat«, erklärte er. Seine fremdartig schnarrende Stimme hallte dumpf in dem riesigen Raum wider. »Die Fische, die wir darin halten, sind als Nahrung für euch Flüchtlinge gedacht. Seitdem wir belagert werden, müssen wir jede Möglichkeit nützen, für Essen zu sorgen.«
Enris hörte ihm nur mit halbem Ohr zu. Im Gegensatz zu Neria war er beeindruckt vom Lichtspiel der flackernden Flammen auf dem stillen Wasser, das die Säulen widerspiegelte und ihre Anzahl scheinbar verdoppelte, vom hallenden Geräusch ihrer Schritte auf dem Steinweg und der
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